Südamerika

Fantastische Leere und dünne Luft in Chiles Norden

Milda Drüke
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Einsam zeigt sich das Hochland hinter Arica. Wo Flamingos stehend im Wasser schlafen, in dem sich die Vulkane spiegeln.

Von Westen rollt der Pazifik an Wüstenstrände. Und mit ihm dieser einsame Surfer. Er reitet auf El Gringo, der Welle, bis zum Saum von Chiles nördlichster Stadt: Arica. Zeit ist hier „nur ein Ort auf dem Zifferblatt“. Und Arica nennen seine Bewohner „Stadt des ewigen Frühlings“. Tagein, tagaus um die zwanzig Grad.

1874, Jahre bevor Gustave Eiffel beginnt, den Turm in Paris zu errichten, verschifft er Fertigbauteile aus Stahl nach Arica. Handwerker fügen sie zum Zollgebäude am Hafen zusammen. Und als 1875 ein Schiff mit Fertigbauteilen für die Catedral de San Marcos anlegt, stellen sie das Gotteshaus auf die Plaza de Cólon. Seither hat kaum eine Wolke ihren Schatten auf das Zollhaus geworfen. Kaum ein Regentropfen die Kirche benetzt. Der Große Norden Chiles ist 75 Mal trockener als Death Valley. Dennoch, in Arica raschelt Wind durch die Kronen von Honigpalmen. Auf dem Markt häufen Bauern heimische Bohnen auf den Ständen. Tomaten, Mais, Oliven.

Wächst alles im nahen Azapa- und Lluta-Tal, wo nun der Pick-up hinrollt. Durch die offenen Autofenster strömt würzige Luft. Zwischen knochentrockenen Hügeln streckt sich staubiges Oasengrün. Aus den Anden fließen die Wasser des Rio San José de Azapa und des Rio Lluta in die Täler östlich und nördlich von Arica, befeuchten Obstplantagen, Olivenhaine, Gemüsefelder. Der Blick gleitet über die Flächen und bleibt haften an Erdzeichnungen auf Felsflanken. Geoglyphen und Petroglyphen zeigen geometrische Muster, Umrisse von Menschen, Lamas, Adlern aus prähispanischer Zeit. Vielleicht Wegweiser an der Handelsroute vom Pazifik in die hohen Ebenen zwischen westlichen und östlichen Kordilleren. Vielleicht Ausdruck dessen, was Menschen drängt, schöpferisch zu sein. Vielleicht Huldigung der Götter.

Fünf-Meter-Kaktus

Die Nationalstraße CH11 bergauf ist nichts mehr. Kein Baum, kein Strauch. Nur Wüste. Alle Schattierungen von Braun. Hinter der Kurve fällt der Schatten eines Kandelaberkaktus aufs Geröll. Anhalten und über rutschende Steine ein Stück hinauf. Mit dem Kopf im Nacken den fünf Meter hohen Stamm mit den dicken Dornen und Armen bestaunen. Weiterfahren in dünnerer Luft, kalten Windböen und Sicht auf mehr einsame Kandelaberkakteen. Manche tragen dick gepolsterte Vogelnester.

Abfahren von der CH11. Wenig später fällt der Blick auf Putre am Fuß des Taapaca-Vulkans. Terrassierte Felder säumen den Ort: Alfalfa, Oregano, Artischocken, Bewässerungskanäle. Gefahrene Kilometer seit Arica: 141, in drei Stunden von zwei Metern über dem Meer auf 3650 Meter in Putre mit 2000 Bewohnern, die meisten von ihnen Aymaras. Es ist Mittag, auf den Straßen niemand. Die dünne Luft macht zu schaffen. Über Bruchsteine geht's die Straße hinunter, vorbei an barocken Holztüren. In einem Eckhaus steht die Tür weit offen. Heraus tritt der Wirt mit Matetee gegen die Höhenbeschwerden. Der runzlige Wirt bringt mehr dampfenden Tee, während Hufklappern lauter wird, Gaucho und Pferd vorbeitrotten. Er bleibt wortkarg. Erst die Frage zum Bewässerungssystem macht ihn beredt. Er setzt sich zu seinen Gästen. Bevor er von seinem Bier trinkt, schüttet er Tropfen auf die Straße. Warum? Der erste Schluck sei für Pachamama. Seit Evangelikale missionieren, dächten nur katholisch gebliebene Aymaras noch an das Opfer für die Erdmutter. Und die Felder um Putre gehören nicht den Einheimischen, sondern Leuten in Arica.

Die Conaf, die Nationalpark-Behörde, beschütze zwar die Tiere im Nationalpark, aber nicht die Herden der Aymaras – Lamas und Alpakas. Obwohl der Puma ihre Tiere reißt, dürfen sie ihn nicht jagen. Der Wirt erinnert sich, wie der Bau der CH11 den Aymaras keine Arbeitsplätze brachte, Weideland zerstörte und zu Wasserknappheit führte. Firmen, die Borax oder Lithium abbauen, interessierten sich ebenso wenig wie Transportunternehmer für einheimische Belange. Aber Touristen seien willkommen, sagt er, sie interessierten sich für die Kultur der Aymaras. Er hat von der Fundación Altiplano gehört, die Kirchen und Häuser auf der Hochebene restauriert, auch um abgewanderte Indigene zurückzuholen. Das sei gut. Nur wollen Aymaras nicht bloß Fotomotiv sein, denkt er laut, während er nach hinten geht und mit einem Paket zurückkommt. „Charqui, Lamafleisch in Streifen luftgetrocknet. Für unterwegs.“

Anruf bei der Rangerstation Conaf. Ja, alle Betten sind frei. Das Tempo auf dem Weg zum Pick-up bestimmt die Atmung, das pochende Herz. Kalter Wind sirrt über die sonnendurchglühte Wüste. 1970 machte die chilenische Regierung 137.883 Hektar Anden-Hochland zum Lauca-Nationalpark. Damals hatten Jäger das zierliche Vikunja seiner Fellhaare wegen fast ausgerottet. Sie sind dichter, feiner und kostbarer als Kaschmir und Alpaka. Die flugunfähigen Nandus rannten um Federn und Leben. Puma und Fuchs sagten sich beinahe für immer gute Nacht. Vögel zu Wasser und in der Luft waren selten gesehen.

Im Wüstenbraun verstreut Explosionen von Grün: Yareta, weich wie Moos, wächst 1,4 Millimeter pro Jahr. Mancher grüne Fleck, der in der Wüste leuchtet, mag 3000 Jahre alt sein. So große sind rar, trotz strengsten Schutzes. Mitte des vergangenen Jahrhunderts haben Minenbetreiber Tausende Tonnen verbrannt. Auf 4200 bis 4800 Metern Höhe finden die Aymaras nur diesen einen Brennstoff, trocknen ihn monatelang. Er brennt langsam, ohne Rauch und wärmt, während sie Kalapurka-Eintopf oder Kartoffeln über den Flammen kochen.

Halbnomadisch unterwegs

Abbiegen auf eine Schotterstraße. Die Augen schweifen über die Cerro de Colores, Berge ineinanderlaufender Farben mineralhaltigen Gesteins. Eisen, Kupfer, Schwefel. 2007 schuf die chilenische Regierung aus zwei Provinzen die Región Arica y Parinacota. Aussteigen auf 4390 Metern in Parinacota. Schnaufend im kalten Wind, in der sengenden Sonne, der Leere der Straße und kalkweißer Häuser. Die Bewohner finden sich hier nur ein, wenn sie religiöse Feste feiern. Jetzt schweifen sie mit Lamas und Alpakas über Feuchtgebiete, die Bofedales. Bis auf die alte Frau im blauen Glockenrock vor der Kirche mit dem Lama an der Leine.

Weiter zur Lagune Cotacotani, abbiegen auf die Nationalstraße. Dann zum Steinhaus und der Bank neben der Tür. Ranger in dicken Conaf-Jacken rücken zur Seite, damit die Ankommenden sich setzen können. 4517 Meter über dem Meer schauen sie wortlos über verrückt schöne 21,5 Quadratkilometer Chungará-See. Das glatte Wasser spiegelt den schneebedeckten Vulkan Parinacota. Riesenblesshühner bauen an schwimmenden Nestern, staksen im Uferschlamm. Vikunjas äugen herüber. Eine Vizcacha, eine Hasenmaus, sonnt sich auf Steinbrocken.

Die für Camper errichteten Häuschen sind leer. In der Küche glüht ein Ofen. Nebenan im Doppelstockbett schläft es sich in Eisluft, eingepackt in jedes vorhandene Kleidungsstück. Morgens um vier ist das Wasser eingefroren. Ohne Dusche zu Umberto in den Geländewagen. Er muss zur Conaf-Station am Salzsee Surire. Unfassbare Schwärze, bis Scheinwerferlicht im Dunkel schwankt. Lastwagen mit Borax aus Surire. Mit Lithium aus der Atacamawüste. Umberto nickt stumm. Später nennt er Dinge, die alle Welt haben will. Akkus, Medikamente, die Lithium beinhalten. Spricht von Elektromobilität, sauberer Energie für Menschen in Ballungsgebieten. Möglich wird sie durch den umweltbelastenden Abbau von Mineralien und Leichtmetallen auch hier, im menschenleeren Naturschutzgebiet von Chiles Norden.

Es ist noch Nacht, als Umberto die Mitfahrer absetzt. Sie gehen im Schein der Taschenlampe und Milchstraße zum Salzsee. Legen sich auf den Boden und warten auf Licht. Da stehen sie dann: schlafende Flamingos. Graue Bälle auf Stelzen-Beinen im Wasser. Nur der Wind ist zu hören und die Stimmen erwachender Vögel. Hinter ihnen, auf der anderen Seite des Sees, färben sich Berge wie gefrorenes Feuer. Umbertos Wagen hält genau in dem Augenblick, als Sonne auf die Beobachter fällt. Kalt bis ins Mark steigen sie ein. Schweigend fahren sie durch gelbe Pampa, hellrosa Schluchten, sehen Vulkane wie Solitäre in der Leere der Landschaft. Später sagt Umberto, das Erhabene seines Landes berühre jeden, der es zulässt. Das Berührtsein höre niemals auf. Auch bei ihm nicht, der nie anderswo war.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2019)

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