„Immer an den toten Winkel denken“

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Nach dem Tod eines Buben fordern viele, dass Lkw mit Abbiegeassistenten ausgestattet werden müssen. Diese könnten viele Unfälle verhindern. Manche rüsten schon auf.

Wien. Es ist für jeden Lastwagenfahrer eine besonders heikle Situation: Das Rechtsabbiegen an einer Kreuzung in der Stadt. Bei großen Lkwblickt der Lenker aus zwei Metern Höhe hinunter. Und trotz Spiegeln gibt es vorn und seitlich Bereiche, die nicht einsichtig sind. Fußgänger und Radfahrer, aber sogar Autos verschwinden im toten Winkel. Das kann mitunter tödlich enden.

Nachdem vor einer Woche ein neunjähriger Bub in Wien auf dem Schulweg von einem Lkw erfasst und getötet wurde, wird darüber diskutiert, den toten Winkel zu eliminieren. Denn der getötete Bub ist nicht der einzige. 2017 starben sechs Fußgänger und drei Radfahrer bei Unfällen mit Lkw, im Jahr davor waren es insgesamt 21 Menschen. Verletzt wurden jährlich mehr als 130 Menschen. Was das bedeutet, illustriert ein tragischer Fall vor sechs Jahren, bei dem eine Pensionistin und eine Zwölfjährige starben. Auch die Mutter wurde überrollt: Sie verlor beide Beine.

Viele dieser Unfälle hätten verhindert werden können, wäre der tote Winkel ausgeräumt gewesen, sagt der Unfallforscher Ernst Pfleger. Deutsche Experten schätzen, dass sogenannte Abbiegeassistenten 60 Prozent aller schweren Unfälle mit Lkw vermeiden könnten. In Österreich fordern inzwischen mehr als 30.000 Menschen via Petition, dass das für alle Lkw Pflicht wird. Die EU sieht das erst ab 2024 vor – und nur für neue Lastwagen.

Verkehrsminister Norbert Hofer (FPÖ) unterstützt die Forderung prinzipiell. Man prüfe die Umsetzung einer Regelung. Bis April wird ein Pilotprojekt evaluiert, das noch sein Vorgänger Jörg Leichtfried (SPÖ) gestartet hat und bei dem 15 Lkw mit Assistenzsystemen ausgestattet wurden. Konkret handelt es sich um drei Kameras – auf der Windschutzscheibe sowie rechts und links hinten –, die detektieren, ob sich im toten Winkel eine Person befindet und den Lkw-Lenker visuell und per Piepston warnen.

Auch sonst ist kaum jemand offen dagegen. Sogar die Wirtschaftskammer (WKO) ist dafür – mit einem Einwand: Kosten. Es brauche Förderungen. Die Geräte aus dem Pilotprojekt kosten 6500 Euro brutto. Bei der WKO ist die Rede von 1500 bis 3000 Euro – je nachdem, um welches Lkw-Modell und Sicherheitssystem es sich handelt: mit Kamera, mit Warnung oder mit automatisch eingeleiteter Bremse.

Unfallforscher Pfleger ist der Meinung, dass Kameras und ein Display, die jeweils beim Abbiegen aktiviert werden, eine ausreichende und zudem kostengünstige – also auch leicht umsetzbare – Variante sind. Ernst Tomasch, der an der TU Graz das Pilotprojekt evaluiert, ist gegen ein Videodisplay und für die Warnung. „Sonst geht Reaktionszeit verloren, die über verletzt und unverletzt entscheiden kann.“

Manche Unternehmen ergreifen inzwischen selbst die Initiative. Der Diskonter Hofer hat beschlossen, seine Lkw mit Abbiegeassistenten auszustatten – freilich nur die neuen. Er folgt damit dem Beispiel aus Deutschland, wo mehrere Unternehmen freiwillig bei ihren Lkw-Flotten nachgerüstet haben. In Deutschland wurden Abbiegeassistenten für schwere Lkw allerdings bereits gefördert. Nach Debatten über den toten Winkel im Vorjahr kündigte Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) an, die Umrüstung von Lastwagen ab 3,5 Tonnen ebenfalls zu unterstützen.

London verbannt Lastwagen

Während die Maßnahmen gegen den toten Winkel auch in Deutschland weiterhin freiwillig sind, geht London einen anderen Weg, um Unfälle mit schweren Lkw einzudämmen: Lkw mit schlechter Sicht sollen stufenweise nicht mehr in die britische Hauptstadt einfahren dürfen. Das sieht ein Plan der Londoner Verkehrsbehörde TfL vor.

Einfahrbeschränkungen will Ex-Verkehrsminister Leichtfried in Österreich für ausländische Lkw, die kein Sicherheitssystem haben – wenn die geforderte Pflicht in Österreich umgesetzt ist. Wiens grüne Stadtchefin Maria Vassilakou, die ankündigte, die Verkehrssicherheit rund um Volksschulen zu verbesser, will wie Leichtfried zudem auch finanzielle Förderungen.

Bis sich etwas ändert, rät Unfallforscher Pfleger jedenfalls zu besonderer Vorsicht, wenn ein Lkw Anstalten macht, abzubiegen. Das gelte auch für Autofahrer auf mehrspurigen Straßen, die rechts von einem Lkw sind. „Man muss immer an den toten Winkel denken.“ Fußgänger warnt er: „Wenn ich das Gesicht des Lenkers nicht sehen, ist es kritisch.“ Auch bei Grün gelte dann: lieber stehen bleiben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2019)

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