„Der Boden unter den Füßen“: Der Erfolg treibt in den Wahnsinn

Ein ungleiches Geschwisterpaar: Lola (Valerie Pachner) und Conny (Pia Hierzegger).
Ein ungleiches Geschwisterpaar: Lola (Valerie Pachner) und Conny (Pia Hierzegger).Novotnyfilm
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Marie Kreutzers „Der Boden unter den Füßen“ über die Abgründe der modernen Leistungsgesellschaft kommt am Freitag in die Kinos.

Die Frage der Ärztin bringt Lola (Valerie Pachner) kurz aus der Fassung. Ob sie ihre gegenwärtige Berufssituation als stressbelastet bezeichnen würde? „Nicht mehr als sonst.“ Auch die Erkundigung nach psychischen Erkrankungen in der Familie entlockt ihr bloß ein verlegenes Kopfschütteln. Frau Doktor ist nicht überzeugt: „Warum lügen Sie mich an?“

Ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil Lola Angst hat, so zu werden wie ihre große Schwester Conny (Pia Hierzegger). Plötzlich im Otto-Wagner-Spital aufzuwachen, wo die Leute „den Schaumgummi unter der Matratze“ essen. Lola isst lieber Coq au vin. Das kann sie sich leisten, sie hat es zu etwas gebracht. Aus prekären Verhältnissen in die Welt des Erfolgs, wo selbstbewusste Anzugträger Unternehmen bei der Umstrukturierung (sprich: Kündigungen) beraten, die nächste Sprosse der Karriereleiter stets im Blick. Zwar schreckt Lola jeden Morgen aus unruhigen Träumen auf und tritt im Fitnessstudio etwas zu verbissen in die Pedale. Aber sie hat sich im Griff. Oder?

Schimpfexzesse wie bei „Der Exorzist“

Marie Kreutzers jüngster Spielfilm „Der Boden unter den Füßen“, der im Februar bei der Berlinale Premiere feierte, zittert vor Unbehagen an der modernen Leistungsgesellschaft. Wie die Arbeitshandys, die immer dann läuten, wenn es am schlechtesten passt. Lola muss abheben, es könnte ein wichtiger Kunde sein; doch manchmal ist es Conny, die wie ein Gespenst aus der Vergangenheit auftaucht: Warum hast du mich vergessen? Bin ich nicht ein Teil von dir?

Kreutzer spielt bewusst mit Motiven des Horrorgenres, um die Zerrissenheit ihrer Hauptfigur zu vermitteln – schließlich geht es auch dort um die Wiederkehr des Verdrängten. Wenn Conny in der Klink durchdreht, plötzlich vor Wut zu krächzen beginnt, denkt man an Linda Blairs Schimpfexzesse aus „Der Exorzist“. Die charakterlosen Hotelzimmer und Büroräume – in Leena Koppes kühler 35-mm-Bildgestaltung – wirken immer befremdlicher. Ein wenig erinnert das alles an Christian Petzolds geisterhaftes Drama „Yella“, das auch im Finanzsektor spielte.

Doch Kreutzer bleibt vergleichsweise konkret. Und moralisch. Lolas Berufsalltag ist wie eine Droge, Conny bei aller Unheimlichkeit die vertraute Stimme der Vernunft, die vor dem Absturz warnt. Ein Gegensatzpaar, das im Grunde (Schizophrenie!) eine einzige Person sein könnte: Die getriebene Blonde auf unablässiger Geschäftspirsch in Rostock, die zerrüttete Schwarzhaarige kurz vor der Selbstaufgabe in Wien, diesem Unbewussten deutscher Korrektheit.

Die Glücksverheißung professionellen Aufstiegs stellt „Der Boden unter den Füßen“ als Trugbild dar. Mit beizender Beiläufigkeit seziert er Lolas Milieu. Da entschuldigt sich die Assistentin bei ihrer eigenen Geburtstagsfeier kleinlaut für einen Buchungsfehler. Spätschichten sind die Norm, Psychopharmaka unabdingbar, „Teamgeist“ eine Floskel; in Lolas amouröse Beziehung zu ihrer Vorgesetzten Elise (Mavie Hörbiger), die freilich geheim bleiben muss, sickert schmerzliche Unsicherheit.

Auch mit der Gleichstellung ist es nicht weit her: Die Mädels dürfen zwar mitspielen, aber wehe, der Stöckelschuh bricht – und gendergerechte Sprache schützt nicht vor zudringlichen Kunden. Kreutzers Systemkritik fällt weniger subtil aus als die ähnlich gelagerten Filme der vergangenen Jahre, darunter Maren Ades „Toni Erdmann“ oder „Alles ist gut“ von Eva Trobisch: „Fitter, happier, more productive“, prangt hier etwa auf der Glastür eines Trainingszentrums – in Anspielung auf ein Radiohead-Stück, das 1997 die Entseelung der kapitalistischen Gegenwart beklagte. Konsequenz kann man dem düsteren Sittengemälde aber nicht absprechen.

Pachner mimt Lola mit eindringlicher Angespanntheit, die Panik vor dem drohenden Kontrollverlust nur mühevoll zurückhaltend. Hierzegger überzeugt etwas weniger, für ihre Rolle mutet sie meist zu beherrscht an – was natürlich auch zum Vexierspiel des Films gehört: Wer ist hier wirklich verrückt? „Der Boden unter den Füßen“ kann auch als Statement gegen unreflektiertes Effizienzdenken verstanden werden. Dass er heute Abend die Diagonale in Graz eröffnet, ist folgerichtig: Das Festival des österreichischen Films rückt seine Oppositionshaltung immer deutlicher in den Vordergrund.

DIE DIAGONALE

Das Festival des österreichischen Films läuft vom 19. bis zum 24. März. Gezeigt werden rund 100 heimische Produktionen, darunter neue Arbeiten von Peter Schreiner und Sebastian Brameshuber. Sonderprogramme widmen sich dem Frauenbild hiesiger Filmgeschichte, dem Wiener Kultschauspieler Hanno Pöschl und dem Kunstkinorenegaten Ludwig Wüst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2019)

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