Wort-Band

Die Beziehung zwischen Österreich und Tschechien ist seit jeher gespannt. Um Gräben zuzuschütten, haben Historiker beider Länder nun ein gemeinsames Geschichtsbuch verfasst.

Was am Freitagabend im Haus der Geschichte im Museum NÖ in St. Pölten geschieht, verdient das Attribut „epochal“: Präsentiert wird das Buch „Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“ (Niklas Perzi et al., 412 S., Bibliothek der Provinz, 34 €). Wer mit der Materie nicht so vertraut ist, wird die Einzigartigkeit dieses Ereignisses vielleicht nicht gleich erkennen. Doch es gibt in Europa keine anderen zwei Staaten, die ihre gemeinsame Geschichte derart unterschiedlich interpretieren wie Österreich und Tschechien. Das beginnt bei den Hussiten, geht über den 30-jährigen Krieg und das Ende der Donaumonarchie und reicht bis in die Nazi-Zeit und die Geschehnisse nach dem Ende des „Ostblocks“.

Die Verwerfungen zeigen sich auch in vielen Stereotypen, die Österreicher von Tschechen haben und umgekehrt. So sind wir Österreicher in den Augen viele Tschechen überheblich, oberlehrerhaft und zugleich rückständig. Den Tschechen sagen viele Österreicher hingegen nach, sie seien heimtückisch, häretisch, ein „Dienstbotenvolk“ und „Totengräber der Monarchie“. Diese Ressentiments sind wirkmächtig wie eh und je: Staatsbesuche sind selten, Konfliktpunkte (etwa Atomkraftwerke oder die Beneš-Dekrete) werden von manchen Gruppen auf beiden Seiten gnadenlos ausgeschlachtet und in innenpolitisches Kleingeld umgemünzt.

In der Wissenschaft versucht man schon länger, diese Spaltungen zu überwinden. Vor zehn Jahren wurde die Gründung einer Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker beschlossen – und nun ist die Frucht dieser Initiative fertig: ein allgemein verständliches und reich bebildertes Geschichtsbuch, das gemeinsam von tschechischen und österreichischen Autoren verfasst wurde und hinter dem beide Seiten voll stehen.

Dabei werden nicht etwa die zwei Nationalgeschichten parallel erzählt, sondern Ereignisse und Phänomene behandelt, die in beiden Gesellschaften ihre Wirkung entfalteten – z. B. die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, die Besetzung durch Hitler-Deutschland, die (versuchte) Sowjetisierung, das Jahr 1968 oder die Popkultur. Es ist ungemein erhellend und obendrein spannend zu lesen, wenn die Ereignisse in einen größeren Zusammenhang gestellt und die Beweggründe der Akteure auf beiden Seiten erläutert werden.

Beim Schmökern in dem Buch wird einem einmal mehr klar: Ressentiments beruhen meistens schlicht auf Unwissenheit über den anderen.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2019)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.