Wie aus den Städten in Xinjiang die Seele verschwunden ist

Große Berichte widmen sich der Lage in der westchinesischen Provinz, wo für Uiguren eine bleierne Zeit angebrochen ist.

Sechsundzwanzig Stunden hatte es gedauert, bis der Reisende sämtliche Kontrollen durch den chinesischen Grenzschutz, Zoll, Militär und Polizei passiert hatte und er von Kirgisistan kommend endlich in der großen Ostprovinz Xinjiang einreisen konnte. 26 Stunden! Nach der Grenze, auf der Fahrt in die legendäre Karawanenstadt Kaschgar musste er alle 20, 30 Kilometer an einem Kontrollposten stehen bleiben: bewaffnete Wachposten, ein schwerer stählerner Schlagbaum, Drahtigel. „In der langen Zeit, die ich nach China reiste, hatte ich noch nichts Vergleichbares erlebt“, heißt es in einer in „Lettre International“ (Nr. 124) abgedruckten Reportage, die ein „Anonymus“ verfasst hat, der seine eigene Sicherheit und die seiner Gesprächspartner nicht gefährden wollte.

Reisen von Einzelpersonen, die etwa als Sportler Xinjiang mit dem Fahrrad durchqueren oder die dortige legendäre Taklamakanwüste erkunden wollen, sind inzwischen praktisch unmöglich geworden. Die chinesischen Behörden wollen eigentlich nur noch staatlich organisierte und strengstens kontrollierte Gruppenreisen zulassen. Umso wertvoller ist dieser „Anonymus“-Bericht aus dem Jahr 2018, zumal der Autor Vergleiche mit früheren Reisen anstellen konnte. Angesichts der Kontroll- und Modernisierungswut der Chinesen in Kaschgar stellt er fest: Die Seele der Stadt sei verschwunden, ebenso wie das Leben von den Straßen: „In Kaschgar ist nicht nur eine jahrtausendealte, materiell erhalten gebliebene Kultur, sondern auch die Geschichte selbst ausgetilgt worden.“

Hintergrund dieses Zerstörungswerks ist, dass die tonangebenden Han-Chinesen dem im Xinjiang ansässigen muslimischen Turkvolk der Uiguren jegliche Gelüste nach eigener religiöser und kultureller Identität oder politischer Autonomie austreiben wollen; Hintergrund ist auch, dass Xinjiang im Jahrhundertprojekt der neuen Seidenstraße von Chinas starkem Mann, Xi Jinping, eine Schlüsselrolle als geografische Drehscheibe zugedacht ist.

Auch „Le Monde diplomatique“ widmet sich in seiner Märzausgabe in einer Analyse der „bleiernen Zeit“, die in Xinjiang angebrochen ist. Inzwischen hat die Zentralregierung in Peking die Provinz zum Experimentierfeld für die digitale Überwachung der Gesellschaft und den sicherheitstechnischen Einsatz von Big Data gemacht. Betroffen sind wieder vor allem die Uiguren, die ständig videoüberwacht werden, nicht mehr ins Ausland reisen dürfen, sich mit Alkohol- und Nikotinabstinenz, einem zu langen Bart oder einem Gesichtsschleier, Fasten im Ramadan oder muslimischen Vornamen für ihre Kinder sofort verdächtig machen.

Inzwischen sollen bereits rund eineinhalb Millionen der 8,3 Millionen Uiguren in Dutzenden von „Umerziehungslagern“ auf den „rechten chinesischen Weg“ gebracht werden: „Was der Regierung in Peking als Zusammenleben vorschwebt, ist eine demografische und kulturelle Homogenität unter chinesischen Vorzeichen und eine strenge Kontrolle der Institutionen der autonomen Region durch chinesische Kader“, schreibt der Chinaexperte Rémi Castets von der Universität Bordeaux Montaigne. Doch das steigere nur die Wut der Uiguren auf die in Xinjiang angesiedelten Han-Chinesen, die man als arrogante Kolonialherren wahrnehme und von denen sie sich nur noch als Bürger zweiter Klasse behandelt fühlten. Was Castets auch noch aufgefallen ist und was – global gesehen – auch sehr bezeichnend ist: „Die muslimischen Länder halten sich in der Uiguren-Frage komplett bedeckt.“

Emails an: burkhard.bischof@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2019)

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