EU-Ausschlussrecht könnte gemeinsame Werte wirksam wahren

Der Gerichtshof der EU trägt zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Union bei (im Bild der große Beratungsraum).
Der Gerichtshof der EU trägt zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Union bei (im Bild der große Beratungsraum).(c) B. Kommenda
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Warum der Rechtsstaat so unverzichtbar wie schwer zu sichern ist.

Wien. Die EU versteht sich als Gemeinschaft der Werte, zu denen die Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit sowie – als deren Grundlage – auch die Rechtsstaatlichkeit zählen. Ein transnationaler Raum der Rechtsstaatlichkeit ist eine Grundbedingung für das Funktionieren der EU als Raum ohne Binnengrenzen, der auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens basiert. Deutlich wird dies am Beispiel des Europäischen Haftbefehls, eines Verfahrens zwischen den Mitgliedstaaten zur vereinfachten Übergabe von Personen zur Fahndung oder Strafvollstreckung, die grundsätzlich ohne erneute Prüfung der Gründe stattfinden muss. Dies kann nur bei Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des anderen und die Wahrung des EU-Rechts funktionieren.

Verstöße gegen EU-Recht sind freilich alltäglich. Kürzlich hat der Gerichtshof der EU (EuGH) festgestellt, dass die Staatsanwaltschaften in Deutschland keine ausreichende Unabhängigkeit für eine Justizbehörde zur Ausstellung eines EU-Haftbefehls bieten, da sie der Weisung der Exekutive (Justizminister) unterliegen können.

Justiz auf Parteilinie

Nicht jede Unvereinbarkeit mit dem EU-Recht begründet jedoch rechtsstaatliche Bedenken. In föderalen Systemen legt die zentrale Entscheidungsinstanz das übergeordnete Recht einheitlich aus und stellt Verstöße fest. Ferner darf die nationale Gesetzgebung durchaus ihre Spielräume austesten. Rechtsstaatlichkeit verlangt hier, dass der Mitgliedstaat den Rechtsverstoß abstellt und Urteile des EuGH nicht konsequent zu unterminieren versucht. Es geht also um systematische Fälle, wie in Ungarn, Polen und auch Rumänien, wo Justizsysteme umgebaut und auf Parteilinie gebracht werden, Korruption grassiert, Menschenrechte missachtet und demokratische Spielregeln gefährdet werden.

Obwohl die Wahrung der Werte eine Bedingung der EU-Mitgliedschaft ist, konnten Bulgarien und Rumänien 2007 ungeachtet von Problemen in den Bereichen Justizwesen, Korruption und organisierter Kriminalität beitreten. Ein Kooperations- und Kontrollverfahren soll diese Staaten auch durch finanzielle Unterstützung auf dem Weg zur Erfüllung rechtsstaatlicher Anforderungen begleiten. Während die Kommission jüngst Bulgarien deutliche Fortschritte attestieren konnte, detektierte sie in Rumänien viele Rückschritte.

Ist ein Staat erst einmal in der EU, sind Reaktionen schwieriger. Vertraglich vorgesehen ist ein Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, der eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der gemeinsamen Werte mit der Aussetzung von Mitgliedschaftsrechten – ausdrücklich erwähnt ist das Stimmrecht im Rat – sanktionieren kann (Art 7 EU-Vertrag). Doch was gelegentlich „Nuclear Bomb“ genannt wurde, dürfte sich als Blindgänger entpuppen. Das Verfahren hängt maßgeblich von der politischen Wertung der Mitgliedstaaten ab und verlangt Einigkeit gegenüber einem „Outsider“: Sanktionen verlangen zunächst eine einstimmige Feststellung der Werteverletzung durch den Europäischen Rat. In den Verfahren gegen Polen und Ungarn haben beide bereits angekündigt, den jeweils anderen zu schützen.

Zur Vermeidung des Art-7-Verfahrens hat die EU-Kommission autonom einen präventiven Rechtsstaatlichkeitsdialog entwickelt, der mit Polen und Ungarn allerdings weitgehend erfolglos geblieben ist. Gegen Polen hat sie daher ein Vertragsverletzungsverfahren geführt und dem EuGH ermöglicht, die zwangsweise vorzeitige Richterpensionierung als Verletzung der Unabhängigkeit der Justiz und Unabsetzbarkeit von Richtern festzustellen. Da Art 19 EU-Vertrag einen wirksamen Rechtsschutz verlangt und hier eine Missachtung der Rechtsstaatlichkeit aufgrund des konkretisierenden EU-Rechts justiziabel war, konnte ein scharfes Schwert in diesem Kontext zum Einsatz kommen. Dies ist jedoch nicht bei jedweden Verstößen gegen Grundwerte der Fall, insbesondere nicht in den Bereichen, die in alleiniger Zuständigkeit der Staaten verblieben sind.

Daher werden neue Mechanismen diskutiert. Als wirksam dürfte es sich erweisen, finanzielle Leistungen der EU von der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit abhängig zu machen, wie es das EU-Parlament in erster Lesung beschlossen hat. Dies träfe freilich jene Mitglieder empfindlicher, die Empfänger und keine Nettozahler sind. Weitere Vorschläge sehen die Einrichtung einer Expertenkommission und die periodische Überprüfung aller Mitgliedstaaten auf die Wahrung der gemeinsamen Werte anhand konkreter Kriterien vor, wie es die Kommission jüngst angekündigt hat. Ein solches Verfahren böte den Vorteil, nicht als Instrument gegenüber politisch unliebsamen Mitgliedern zu erscheinen, sondern als Sicherung wahrhaft gemeinsamer Werte. Die Frage der Sanktionen bliebe freilich, und ob solche Mechanismen ohne Änderung der EU-Verträge etabliert werden können, erscheint eher zweifelhaft. Politisch dürften sie auf Widerstand v.a. aus Osteuropa stoßen.

Überzeugung statt Dekret

Werte können nicht bloß dekretiert werden, sondern müssen als Überzeugung getragen und gelebt werden. Folgerichtig spricht Art 2 EU-Vertrag davon, dass die genannten Werte den Mitgliedstaaten gemeinsam sind – nicht sein oder werden müssen. Auch die EU lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Immerhin, die Mitgliedschaft in der EU ist reversibel und ein Austritt möglich. Wer eine „Tyrannei der Werte“ durch Brüssel ernsthaft beklagt, hat die Möglichkeit, seine Zukunft eigenständig zu gestalten. Allerdings können einzelne Staaten gegen ihren Willen wohl auch dann nicht aus der EU ausgeschlossen werden, wenn sie schwerwiegend und anhaltend die gemeinsamen Werte missachten.

Wirklich sinnvoll erscheint es daher, als Reaktion auf Werteverletzungen ein Ausschlussrecht vertraglich zu verankern, durch welches mit Mehrheitsquorum, nach einer Analyse eines unabhängigen Sachverständigengremiums und Zustimmung des EU-Parlaments als Ultima Ratio die Schicksalsgemeinschaft mit einzelnen Mitgliedern beendet werden kann. Dies würde deren Erpressungs- und Destruktionspotenzial vermindern, gemeinsame Werte wirksam zur Dauerbedingung der EU-Mitgliedschaft erheben und deren Missachtung mit einem Preis versehen, der ihrer Bedeutung für die Zukunft der EU angemessen ist.


Michael Lysander Fremuth ist Univ.-Prof. für Grund- und Menschenrechte an der Universität Wien und Wiss. Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte. Er ist einer der Vortragenden bei den Rechtsgesprächen im Rahmen des Europäischen Forums Alpbach 2019, das unter dem Generalthema Freiheit und Sicherheit steht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.08.2019)

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