Ein Schamanen-Ritual in der Nähe von Kyzyl
Reportage

Zwischen Globalisierung und jahrhundertealter Hirtenkultur: Ein Besuch in Russlands Teilrepublik Tuwa

Die Teilrepublik Tuwa – Heimat der ethnischen Minderheit der Tuwiner – sucht nach einem Platz im Vielvölkerstaat Russland. Politische Unabhängigkeit ist im Moment kein Thema – kulturelle Eigenständigkeit aber schon.

Wer Igor Koschkendej gegenübersitzt, glaubt nicht, dass dieser Mann die kulturelle Wiedergeburt der Tuwiner organisiert. Koschkendej, 41, empfängt etwas steif im Nadelstreifanzug in seinem Kulturzentrum in Kysyl. Hinter ihm hängt die Dreifaltigkeit der russisch-tuwinischen Politik: Präsident Wladimir Putin, Republikschef Scholban Kara-ool sowie Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der aus Tuwa stammt und deswegen in der Region verehrt wird. Doch wer Koschkendej ein paar Stunden später auf der Bühne des Nationaltheaters sieht, der spürt die Leidenschaft dieses Musikers. In seiner blitzblauen Seidenrobe, mit Filzhut auf dem Kopf, zupft er auf einem traditionellen Saiteninstrument und röhrt aus voller Kehle. Koschkendejs Leidenschaft heißt Khöömei: Kehlkopfgesang aus der Republik Tuwa.

Es ist Mitte August, und das Festival „Khöömei im Zentrum Asiens“ findet zum dritten Mal in Kysyl statt, der Hauptstadt von Tuwa. Gäste aus China, der Mongolei, Frankreich, Deutschland sind angereist. Der Kehlkopfgesang ist in der Weltmusikszene berühmt und füllt Konzerthallen. Er ist zum Markenzeichen Tuwas geworden. Und er ist ein Beispiel dafür, wie das einstige Nomadenvolk seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion seine Traditionen sucht und diese weiterentwickelt.

Khöömei ist ein eigenes musikalisches Universum, das nicht viel mit europäischer Musik gemein hat. Khöömei klingt, als käme er von weit her – und vermag es doch, Menschen auf der ganzen Welt anzusprechen. Zuhörer fühlen sich innerlich berührt, manche fallen in Trance. Mal klingen die Kehlkopflaute wie ein tiefes Gurgeln, mal erinnern sie an Tierstimmen, mal hören sie sich an wie aufgeregtes Glucksen. „Westliche Musik erzählt eine Geschichte, sie ist wie eine Textnachricht“, sagt Sean Quirk. „Tuwinische Musik entspricht einem Bild, es ist wie ein GIF.“ Quirk ist Mitglied des Tuwinischen Nationalorchesters. Der Amerikaner war so fasziniert vom Kehlkopfgesang, dass er vor Jahren in das entlegene Gebiet zog. Ganz Tuwa scheint den Expat zu kennen, der fließend Russisch und Tuwinisch spricht. Letzteres besser als viele Einheimische.

Als „Seele unserer Ahnen“ bezeichnet Igor Koschkendej die Musik. Heute blüht die Khöömei-Szene – gerade auch wegen des internationalen Interesses. Khöömei ist hip. Koschkendej kam in der Perestrojka-Zeit auf den Geschmack der Volksmusik. Er selbst ist ein Kind der Siebziger: Damals gaben viele Eltern ihren Kindern russische Namen. In der Sowjetunion war der Gesang der Nomaden als primitiv verpönt. Heute droht ein anderer Gleichmacher: Die globale Konsumkultur. Koschkendej hält Globalisierung für „gefährlich“ – sie bedrohe die Kultur und die Sprache der Tuwiner. „In 100 Jahren spricht womöglich niemand mehr Tuwinisch“, sagt er und lacht. „Ein Witz“, fügt er hinzu. Wirklich?

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