Kritik

„Deutschstunde“: Leere Leinwand, leeres Papier

Erzwungener Abschied von seiner Frau Ditte (Johanna Wokalek): Maler Max Nansen (Tobias Moretti) wird von der Polizei abgeholt.
Erzwungener Abschied von seiner Frau Ditte (Johanna Wokalek): Maler Max Nansen (Tobias Moretti) wird von der Polizei abgeholt.(c) Network Movie / Wild Bunch
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Christian Schwochow hat „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz verfilmt – mit Tobias Moretti als vom NS-Regime verfemtem Maler. Und mit schönen Landschaftspanoramen.

„Die Freuden der Pflicht“, schreibt der Lehrer mit krächzender Kreide als Aufsatzthema an die schwarze Tafel. Diese Worte gravieren sich in das Bewusstsein des jungen Siggi ein und mobilisieren sein Gedächtnis. Der Schlüsselreiz ist ausgelöst, und er kann die vielen, sich überlagernden Bilder nicht mehr abschütteln, von denen er, Insasse einer Besserungsanstalt in den frühen 50er-Jahren, sagt, sie hätten ihn übermannt, so dass er kein einziges Wort zu Papier bringen konnte.

Geräusche aus seiner Kindheit an der Nordseeküste – das Rauschen des Wassers, das Pfeifen des Windes, das Kreischen der Möwen – legen sich über seine Visionen und Erinnerungen, als er in eine Einzelzelle gesperrt wird, um sein Versäumnis nachzuholen. Blasse, unbeschriebene und unbemalte Flächen sind darin ein wiederkehrendes Motiv. Leere Leinwände stehen auf Staffeleien im Meer und brennen. Die Wände im Elternhaus sind von hellen Rechtecken übersät. Ein Stapel leeres Papier wird aus einer Mappe für Skizzen hervorgeholt. Plötzlich kommt alles zurück, und er beginnt zu schreiben . . .

Über den Vater, der daheim die Gemälde des Patenonkels abhängte und sie plötzlich als krank bezeichnete. Über den Künstler, der sie gemalt hatte und von den Nazis mit einem Malverbot belegt wurde, auf dessen Einhaltung der Vater als einziger Polizist in der verlassenen Gegend beharrte. In der aktuellen Verfilmung des kanonischen Klassikers „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz (1968) wird die Leere auf den imaginierten und memorierten Trägermaterialien zur direkten Triebfeder des Erzählers, der auch gegen das Schweigen und die Einsilbigkeit der Erwachsenen anschreibt, die sich nach Kriegsende selten über ihre Rolle im NS-Staat äußerten.

Kritik am autoritären Denken

Die Darstellung der körperlichen Torturen, die er dafür auf sich nimmt – die erniedrigenden Leibesvisitationen, die bittere Isolation, die dauernde Überwachung – rücken ihn fast in die Nähe eines Märtyrers, dem die vollgeschriebenen Hefte nach Abschluss seines freiwillig verlängerten Arrests bis zur Hüfte reichen. Weil Opferbereitschaft und Gehorsam zu den Tugenden zählen, die seine drakonischen Erzieher täglich propagieren, haben sie ihn aber gewähren lassen müssen. Ungeachtet der Ironie, dass seine Geschichte nicht von den Freuden, sondern den verhängnisvollen Folgen des übersteigerten Pflichtbewusstseins seines Vaters handelt. Und so entstehen ausgerechnet unter dem Druck autoritärer Bedingungen Memoiren, die sich auch als Kritik am autoritären Denken schlechthin lesen lassen.

Regisseur Christian Schwochow ist hoch anzurechnen, dass er den Antagonismus zwischen Max Nansen (Tobias Moretti), der dem idealisierten Typus vom freigeistigen Künstler entspricht, und Jens Jepsen (Ulrich Noethen), der als opportunistischer Beamter eine schlechtere Figur abgibt, nicht einseitig überstrapaziert. Lenz ist immer wieder Verklärung vorgeworfen worden, weil er sich in der Darstellung des Malers am Expressionisten Emil Nolde orientiert hatte, der von den NS-Machthabern zwar als entarteter Künstler verfemt wurde, aber dennoch überzeugter Nationalsozialist blieb.

Im Film ist es nun nicht so, dass Max im Vergleich zu Jens kein Sympathieträger mehr wäre. Jens bleibt der Patriarch, der seinen Sohn dazu zwingt, bei seinem Patenonkel zu spionieren. Aber man sieht auch, dass auch Max den elfjährigen Siggi als Spielball missbraucht, wenn er unter dem Vorwand, ihm das Malen beizubringen, ruppig seine Hand über die Leinwand zerrt.

In seinem Roman hat Lenz die norddeutsche Landschaft in einer weitschweifigen Fülle sinnlicher Details fühlbar gemacht. Sich in solche hineinzusteigern kann sich ein zweistündiger Spielfilm nicht leisten, aber wie die weitläufigen Panoramen ausgewählter Landstriche zwischen magischer Imposanz und trostloser Abgeschiedenheit changieren, als wäre man in einem Western, zeugt von vergleichbarem Gespür für die Eigenheit der porträtierten Umgebung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2019)

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