Hypothese

Warum Frauen einen Orgasmus haben, obwohl er zu nichts nütze ist

Die für unsere Fortpflanzung entbehrliche weibliche Lust ist ein Überbleibsel der Evolution. Früher löste sie den Eisprung aus.

Dieser Aristoteles hat sich doch wirklich über fast alles seine Gedanken gemacht. Sogar darüber: Die Männer brauchen den Orgasmus, um ihren (kleinen) Beitrag zur Fortpflanzung zu leisten. Frauen aber können auch ganz ohne sexuellen Höhepunkt Nachwuchs zeugen. Und ihre Bereitschaft zur Paarung erklärt sich schon aus dem Kinderwunsch. Warum also erleben sie zuweilen doch höchste Lust?

Oder übersetzt in die Sprache der modernen Wissenschaft: Der Orgasmus ist ein so komplexer neuronaler und hormoneller Vorgang, dass er sicher nicht zufällig, ohne starke Selektion zu seinen Gunsten, entstanden sein kann. Aber wenn er anscheinend so wichtig ist, warum tritt er dann bei Frauen so unzuverlässig auf?

Die bisherigen Erklärungen für dieses Rätsel waren alle unbefriedigend. Fest stand nur eines: Bei manchen Säugetieren – wie Kaninchen, Frettchen, Katzen und Kamelen – löst kein zeitlicher Zyklus, sondern der Sexualakt selbst den Eisprung aus. Genauer geht es um den taktilen Reiz auf die Klitoris und um Hormone, die dann großzügig freigesetzt werden. Dass die Tiere dabei viel Lust empfinden, sieht man ihnen an. Was zu der Vermutung verlockt: In ferner Vergangenheit war es generell so, auch beim Menschen. Der weibliche Orgasmus wäre damit ein funktionsloses Überbleibsel der Evolution. Aber wie soll man diese Hypothese empirisch belegen? Gelungen ist es nun einem Team rund um Günter Wagner – einem Forscher aus Wien, der auf der US-Universität Yale lehrt (in Pnas, 30.9.).

Seine Überlegung: Wenn der Eisprung durch Kopulation und die Mechanismen des Orgasmus bei Frauen tatsächlich den gleichen Ursprung haben, dann müssen sie auf Wirkstoffe ähnlich reagieren. Also verabreichte Wagner seinen weiblichen Versuchskaninchen (die Kaninchen hier im Wortsinn) zwei Wochen lang Fluoxetin. Menschen setzen dieses Arzneimittel als Antidepressivum ein – es verlängert den Effekt von Serotonin, hat aber die Nebenwirkung, dass es den Orgasmus verhindert.

Dann führte man die Tiere mit Frank zusammen, dem einzigen männlichen Kaninchen im Labor. Das Ergebnis der fruchtbaren Begegnung, im Vergleich zur Kontrollgruppe: um über 30 Prozent weniger Eisprünge. Aber Vorsicht: Bei diesem Fluoxetin hat man schon früher bemerkt, dass es zuweilen direkt in den Eierstöcken wirkt. Vielleicht bei Kaninchen verstärkt? In einem zweiten Experiment löste man den Eisprung durch Injektion eines Sexualhormons aus. Das vorher verabreichte Fluoxetin störte dabei kaum, es wirkt also auch bei Kaninchen hauptsächlich aufs Zentralnervensystem.

Kaninchen zeigen unsere Ursprünge

Die Hypothese vom weiblichen Orgasmus als evolutionärem Residuum ist damit zwar nicht bewiesen, aber stark erhärtet. Stutzig könnte der mit 30 Prozent eher geringe Rückgang der Eisprünge durch Fluoxetin machen. Aber auch bei Frauen unterdrückt das Mittel den Orgasmus nicht in jedem Fall, und der Stoffwechsel von Kaninchen verarbeitet es schneller. Zudem muss der Effekt nicht gleich stark sein, um als „homolog“ zu gelten, also auf einen gemeinsamen evolutionären Ursprung schließen zu lassen.

Übrigens: Der seltener gewordene Orgasmus von Frauen bei der Penetration erklärt sich dadurch, dass sich die Klitoris verschoben hat. Warum gibt es sie noch? Wagner präferierte im „Presse“-Gespräch von 2016 folgende Hypothese: Die Organe, die beim Orgasmus eine Rolle spielen, entstehen bei Frauen und Männern aus derselben embryonalen Anlage. „Damit könnten Mutationen, die den weiblichen Orgasmus betreffen, auch einen negativen Effekt auf den männlichen und damit auf die Reproduktion haben.“ Also lieber nicht wegmutieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2019)

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