Großbritannien

Die vietnamesische Schleppermafia

Nur noch eine vage Hoffnung in Vietnam: Die Mutter Hoang Van Tieps präsentiert ein Foto ihres vermissten Sohns.
Nur noch eine vage Hoffnung in Vietnam: Die Mutter Hoang Van Tieps präsentiert ein Foto ihres vermissten Sohns.(c) APA/AFP/NHAC NGUYEN
  • Drucken

Nach dem Tod von 39 Vietnamesen in einem Lastwagen sucht eine Delegation aus Hanoi Aufklärung. Britisches Parlament veröffentlicht ersten Untersuchungsbericht.

London. Schon ist es wieder still geworden um die 39 Toten, die vor knapp zwei Wochen im Osten Londons in einem Lkw entdeckt worden waren. Die Ermittlungen der Behörden und die Analyse der Ursachen der Tragödie werden aber noch Monate dauern. „Dieser Fall ist ein Weckruf für die Regierung”, sagte am Montag der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des Parlaments, Tom Tugendhat, bei der Vorstellung eines ersten Untersuchungsberichts. „Auf der ganzen Welt verlieren Familien Angehörige, die ihr Schicksal Menschenschmugglern anvertrauen.“

In ihrem Bericht fordern die Abgeordneten ein internationales Vorgehen gegen den Menschenhandel. Bereits in den vergangenen Jahren habe der kommende EU-Austritt Großbritanniens zu einer Schwächung der Zusammenarbeit geführt: „Britische Vertreter nehmen nicht mehr an regelmäßigen Beratungen über illegale Einwanderung teil“, obwohl diese Kooperation „entscheidend“ für gemeinsame Maßnahmen sei.

Die britische Regierung will mit dem Brexit das Recht auf freie Niederlassung beenden und das Einwanderungsrecht völlig neu gestalten. Obwohl Großbritannien nie Teilnehmer des Schengen-Abkommens war, erwies sich die Forderung nach „Rückgewinnung der Kontrolle“ über die Landesgrenzen als zentrales Argument für den Sieg der Brexit-Anhänger. Dagegen warnen die Abgeordneten: „Die Regierung muss die tieferen Ursachen für illegale Migration ins Auge fassen anstatt sich allein auf schärfere Sicherheitsmaßnahmen zu konzentrieren.“

Geklärt ist die Herkunft der 39 Toten: Sie stammen aus Vietnam, die meisten von ihnen aus der Provinz Nghe An, einer besonders von Armut, Arbeitslosigkeit und Umweltbelastungen betroffenen Region. Zehn Männer wurden zuletzt in Vietnam wegen des Verdachts des Menschenhandels verhaftet, während eine Regierungsdelegation gestern in London zu Gesprächen eintraf. Während die Identifikation der Opfer abgeschlossen ist und die Behörden begonnen haben, die engsten Angehörigen zu verständigen, werden ihre Namen weiter geheim gehalten.

Man kann leicht untertauchen

Die rund 10.000 Kilometer lange Reise von Vietnam nach Großbritannien nahmen Menschen auf sich, um dem Elend in ihrer Heimat zu entkommen. Bis zu 50.000 Dollar verlangen Schmuggler für die Organisation des Entkommens in ein erhofftes besseres Leben. Das jährliche Durchschnittseinkommen in dem südostasiatischen Land beträgt nach offiziellen Angaben 1800 Dollar im Jahr. Viele Familien verschulden sich lebenslang, um Angehörigen die Auswanderung zu ermöglichen.

Großbritannien wurde auch deshalb zu einer attraktiven Destination, weil man nach Eintreffen im Land schnell und einfach untertauchen kann. Rund 55.000 Vietnamesen leben heute hier. Insbesondere der Südosten Englands mit den Fährhäfen nach Europa wurde zu einem Brennpunkt: „Ich sehe jede Menge Menschen auf der M25 von Lkws springen“, erzählt der Lastwagenfahrer Rob Watson. Von der Londoner Außenringautobahn ist es dann oft nur ein Katzensprung in die Metropole. Viele der Neuankömmlinge verschwinden in Nagelstudios, Restaurants und Bordellen.

Die Behörden stehen den Entwicklungen machtlos gegenüber. Lucy Moreton von der Gewerkschaft der Grenzbehörden berichtet, dass die Zahl der Einwanderer zunehme und sie immer neue Wege finden. Nur ein Bruchteil der Autos und Lastwagen, die täglich die Grenze überqueren, könne man kontrollieren: „Je nach Hafen überprüfen wir eines von 350 bis 400 Fahrzeugen“, sagt sie. Die Schließung der einst meist frequentierten Route zwischen Calais und Dover hat den Schmuggel auf kleinere, schlechter ausgerüstete Häfen umgeleitet.

Wie um die Probe aufs Exempel zu machen, schickte der Fernsehsender Channel 4 acht britische Bürger aus, in ihren Fahrzeugen Menschen ins Land zu schmuggeln. „Ich bin eine gesetzestreue Bürgerin“, beteuerte die 62-jährige Carolynn, eine Teilnehmerin. „Aber ich möchte sicher sein können, dass unsere Grenzen geschützt sind.“ Sie brachte einen illegalen Einwanderer mit ihrem Mann in ihrem Auto ins Land. Andere benützten Lkws, Wohnwagen oder Boote. Alle kamen durch. Problemlos.

AUF EINEN BLICK

Schlepperring. In der Nacht zum 23. Oktober sind 39 Vietnamesen während der Überfahrt in einem Kühlcontainer vom belgischen Zeebrügge nach Großbritannien gestorben. Die vietnamesische Polizei hat insgesamt zehn Verdächtige festgenommen, die nach Ansicht der Behörden Teil eines Schlepperrings sind, der Vietnamesen illegal nach Großbritannien bringt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2019)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Weltjournal

Leichenfund in LKW: Vietnam nimmt acht Verdächtige fest

Festgenommene sind Mitglieder eines Schlepperrings, der Vietnamesen illegal nach Großbritannien bringt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.