Joachim Gauck: Die gar nicht graue Eminenz

(c) APN (Berthold Stadler)
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Ex-Pastor Joachim Gauck ist der neue Star der deutschen Politik, SPD und Grüne haben Gauck für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Das Besondere an ihm: Er hat Überzeugungen und nicht bloß einen Karriereplan.

So sieht er also aus, der neue Liebling der Deutschen: Joachim Gauck, 70 Jahre alt, geboren in Rostock, studierter Theologe und einst evangelischer Pastor in der DDR. „Yes, we Gauck“ titelte die „Bild am Sonntag“ euphorisch. Das Magazin „Der Spiegel“ schreibt, er sei „der bessere Präsident“, und kommt dann gehörig ins Schwärmen: „Er zeigte sich als ein Mann, der sich traut, er selbst zu sein.“

SPD und Grüne haben Gauck für das Amt des Bundespräsidenten nominiert – und obwohl er angesichts der Machtverhältnisse in der Bundesversammlung eigentlich keine Chance hat, mischt er die deutsche Politik ordentlich auf. Die Sympathien sind mehrheitlich auf seiner Seite. Sogar aus den Reihen der schwarz-gelben Koalition kommen Lobeshymnen für den fitten Ossi jenseits des Pensionsalters. Der Kandidat von CDU und FDP, Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff, muss sich dagegen als farb- und saftloses Bubi hinstellen lassen, das bestenfalls ein müdes Gähnen provoziert. Laut einer aktuellen Umfrage des Forsa-Instituts können sich 42 Prozent der Deutschen für Gauck erwärmen, aber nur 32 Prozent für Wulff.

Mit Sicherheit entspringt ein Teil der Begeisterung für Gauck den ganz normalen Reflexen des politischen Geschäfts. Wer Gauck preist, kann damit Angela Merkel ärgern. Und das wollen derzeit offenbar viele.

Persönlichkeiten statt Personal

Doch nebenbei und wahrscheinlich sogar unbeabsichtigt haben Rot und Grün mit ihrem Kandidaten einen Nerv getroffen. Joachim Gauck stillt ein Bedürfnis, das nicht nur in Deutschland übermächtig geworden ist: das Bedürfnis nach Persönlichkeiten anstelle von Personal, nach Menschen mit einem richtigen Leben anstelle von kalter Lebensplanung.

Joachim Gauck war Mitgründer der DDR-Bürgerbewegung „Neues Forum“, das 1989 wesentlich zur Wende in Ostdeutschland beitrug. Er hatte in seiner Jugend den Beitritt zur DDR-Jugendorganisation FDJ verweigert und deshalb keinen Studienplatz in Germanistik bekommen. Von 1992 bis 2000 wühlte er sich durch die alten Stasi-Unterlagen und stand mit seinem Namen für deren Aufarbeitung: „Gauck-Behörde“ wurde die Institution in Deutschland genannt. Joachim Gauck hat Überzeugungen, die er sich nachweislich nicht ausreden lässt. Schon das unterscheidet ihn von der Mehrheit der heute tätigen Würdenträger.

Abenteuer im Sitzungszimmer

In Politik und Wirtschaft regiert derzeit das gut geölte Mittelmaß. Seine Vertreter sind wie Christian Wulff: glatt, funktionell, störungsfrei im Betrieb und untereinander ebenso austauschbar wie neue Autos der Kompaktklasse. Die Bosse von heute entstammen mehrheitlich einer Generation, die nie für etwas anderes kämpfen musste als für den eigenen Aufstieg. Eine Karriere gehört ordentlich geplant, haben sie gelernt und deshalb schon in jungen Jahren damit begonnen. Überzeugungen und Ideale genießen für sie oft denselben Stellenwert wie ein Wochenende auf dem Golfplatz oder ein längerer Skiurlaub: schön, wenn es sich zeitmäßig ausgeht, aber nicht lebenswichtig. Ihre größten Abenteuer finden in klimatisierten Sitzungszimmern statt, wenn der nächste Schritt nach oben zur Disposition steht.

Wer wie Gauck in einer Diktatur leben musste, hatte naturgemäß mehr Möglichkeiten, Widerspruchsgeist und Profil zu schärfen als der Nachwuchs im demokratischen Deutschland (oder Österreich). Aber auch in einem freien Land kann man ein paar Ecken und Kanten ausprägen, die – wenn schon nicht für Charisma – wenigstens für Unverwechselbarkeit sorgen. Solche Leute gibt es ja auch, aus ihnen wird nur in aller Regel kein Minister, kein Regierungschef, kein Topmanager. Auf dem Markt für Führungskräfte gibt es für sie derzeit wenig Nachfrage. – Medien leiden unter diesem Mangel ganz besonders. Wen soll man noch interviewen, wenn die Wichtigen allesamt die gleichen öden Stehsätze, einstudiert beim Sprechtrainer, von sich geben? Wer ist überhaupt noch Typ genug, um eine Geschichte zu rechtfertigen? Einzige Rettung ist mitunter die Belegschaft von vorgestern: Der deutsche Altkanzler Helmut Schmidt etwa braucht nur fünf Minuten, um ein größeres TV-Studio vollzuqualmen. Aber fast dreißig Jahre nach seinem Abschied ist er immer noch der spannendere Gesprächspartner als die Mitglieder der amtierenden deutschen Bundesregierung.

Wahrscheinlich trifft die Medien aber auch ein Teil der Schuld an der akuten Gesichtslosigkeit. Wer den verunglückten Nebensatz eines Politikers über ganze Legislaturperioden wiederkäut, muss sich nicht wundern, wenn menschgewordene Sprechautomaten leichter den Weg nach oben schaffen. Wo schon kleine Sünden die Karriere gefährden können, gehört die Welt den grauen Erbsenzählern, denen zum Sündigen die Fantasie fehlt.

Aber jetzt gibt es zum Glück Joachim Gauck, dessen Kandidatur letztlich die Idee einer Tageszeitung war. Die „Welt“ hatte wenige Stunden nach dem Rücktritt von Horst Köhler in einem Kommentar den Namen des ostdeutschen Pfarrers ins Spiel gebracht. Gauck soll der Politik nun wieder Farbe geben. In drei Wochen wird gewählt. Wenigstens so lange hat er dafür Zeit.

Zur Person

Joachim Gauck, geboren 1940 in Rostock, ist protestantischer Pastor. 1990 wurde er Chef der Behörde, die den Stasi-Nachlass verwaltet. Nach dem Rücktritt des Bundespräsidenten Horst Köhler wurde er von SPD und Grünen als (parteiloser) Gegenkandidat zu dem von CDU, CSU und FDP vorgeschlagenen Christian Wulff nominiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2010)

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