Falsifiziert: Radioaktivität

Die Entdecker der Radioaktivität kamen bei der Deutung dieses Phänomens erst auf die richtige Spur, nachdem sie alle bekannten Erklärungsmöglichkeiten eliminiert hatten.

Henri Becquerel staunte nicht schlecht, als er im März 1896 Fotoplatten aus dem Schrank nahm: Obwohl sie dort vor Licht geschützt waren, waren die Filme geschwärzt. Der Gedanke lag nahe, dass die Ursache dafür irgendeine Strahlung war. Doch welche? Becquerel hatte mehrere mögliche Erklärungen bei der Hand. Es konnte sich etwa um die Folge von Phosphoreszenz handeln: Bestimmte Substanzen leuchten, wenn sie zuvor durch Licht angeregt werden. Das brachte den Forscher aber nicht weiter – denn welche Substanz in den lichtdicht abgeschlossenen Filmplatten sollte plötzlich leuchten? Als nächste Möglichkeit betrachtete er ein Phänomen, mit dem Conrad Röntgen wenige Monate zuvor für Aufsehen gesorgt hatte: Er hatte die Hand seiner Frau mit „X-Strahlen“ durchleuchtet und ein Bild der Knochen auf Film gebannt. Doch auch diese Erklärungsmöglichkeit fruchtete nicht – und zwar aus demselben Grund wie bei der Phosphoreszenz: Bei beiden muss eine äußerer Energiequelle vorhanden sein (Licht oder Elektrizität).

Nachdem Becquerel damit alle bekannten Erklärungsmöglichkeiten falsifiziert hatte, kam er auf die richtige Spur: In dem Schrank lagen auch einige uranhältige Erzbrocken, offenbar sandten diese eine (damals unbekannte) Strahlung aus, die den Film schwärzte. Das war ein revolutionärer Gedanke: Er postulierte, dass es Substanzen gibt, die von sich aus strahlen! Marie Curie und ihr Ehemann Pierre, die beide in Becquerels Labor arbeiteten, griffen diese Idee auf, sie konnten beweisen, dass Strahlung eine unmittelbare Eigenschaft von Atomen ist. Die beiden machten noch eine zweite wichtige Entdeckung: Sie fanden 1898 Substanzen, die viel stärker strahlen als Uran, etwa Radium.

Diese Entdeckungen lösten einen wahren Physikboom aus – in dem auch Wien eine wichtige Rolle spielen sollte: Die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Vorläufer der ÖAW) richtete schon im Jahr 1901 eine Kommission für die Untersuchung radioaktiver Substanzen ein. Und im Jahr 1910 – also vor exakt 100 Jahren – wurde das Institut für Radiumforschung gegründet. Möglich wurde das durch eine Stiftung des Industriellen Karl Kupelwieser (Sohn des Malers Leopold Kupelwieser und Onkel von Ludwig Wittgenstein), der dadurch einen der wenigen Naturschätze des damaligen Österreichs, nämlich die uran- und radiumhältige Pechblende aus St. Joachimsthal, für seine Heimat nutzbar machen wollte. Das Radiuminstitut, nach dessen erstem Leiter Stefan Meyer das Institut heute benannt ist, war von Anfang an sehr angesehen. Selbst Otto Hahn bewarb sich als Assistent. Und zwei Nobelpreisträger gingen aus ihm hervor: Victor Franz Hess und George de Hevesy.

martin.kugler@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2010)

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