Neu im Kino

Ein Kostümfilm als Männerblick-Korrektiv

Lodernde Frauenliebe auf einer bretonischen Insel: Die vor einer arrangierten Ehe stehende Héloïse (l., Adèle Haenel) mit Malerin Marianne (Noémie Merlant).
Lodernde Frauenliebe auf einer bretonischen Insel: Die vor einer arrangierten Ehe stehende Héloïse (l., Adèle Haenel) mit Malerin Marianne (Noémie Merlant). (c) Filmladen
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Céline Sciammas Kostümfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ zeichnet die Liebe zwischen einer Malerin und ihrem Modell als Akt feministischen Widerstands – und wird dafür nicht nur in Frankreich gefeiert.

Auf einmal stürmt sie los, die Grafentochter. Das Kleid flattert im Wind, die Wellen rauschen. Da ist der Klippenrand, der Abgrund klafft, oh Gott – setzt sie zum Sprung an? Nein. Im letzten Moment bremst sie ab, dreht sich um, lächelt. „Das wollte ich schon immer machen!“ Was, fragt ihre schockierte Begleiterin, sterben? „Laufen.“

Der melodramatische Selbstmord als tragischer Ausweg aus beengenden Verhältnissen: eine altgediente Dramaturgie, mit der Céline Sciamma wenig anfangen kann. Die französische Filmemacherin sucht nach neuen, emanzipatorischen Erzählformen, heischt Umdeutungen etablierter Genremuster. Vielleicht hat sie sich mit ihrer jüngsten Arbeit genau deshalb der Gattung des Kostümfilms zugewandt, wo große Gefühle meist in abgewetzten Bahnen tosen.

Sciamma lenkt sie schon mit der Ausgangssituation in weniger erprobte Richtungen. Im Jahr 1770 landet Malerin Marianne (Noémie Merlant) auf einer bretonischen Insel. Eine verwitwete Gräfin hat sie beauftragt, das Porträt ihres mannbaren Kindes Héloïse (Adèle Haenel) zu pinseln: Schmiermittel für deren geplante Verheiratung mit einem italienischen Adeligen. Die wohlmeinende Mutter begrüßt den Neuankömmling mit einer Verhaltensanleitung: Weil Héloïse sich aus Eigensinn weigert, Modell zu sitzen, soll Marianne Gesellschafterin spielen – und so das Vertrauen des Mädchens gewinnen.

Drehbuchpreis in Cannes

Doch sie gewinnt viel mehr als das. Marianne zeigt sich fasziniert von der aufmüpfigen, lebenshungrigen Héloïse. Bei Spaziergängen entlang windiger Küsten braut sich Begehren zusammen. Und weil weit und breit keine Heathcliffs oder Mr. Darcys zu sehen sind, die es abfangen und domestizieren könnten, gelangt die Anziehung zwischen den beiden nach und nach zur vollen Blüte – ein Riss im Beton patriarchaler Moral.

„Portrait de la jeune fille en feu“ wurde heuer in Cannes mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet. Seither formiert sich ein stetig anwachsender Hype um den Film und seine Urheberin. Namhafte Medien erklären Sciamma zur Bannerträgerin eines erstarkten weiblichen und queeren Selbstbewusstseins im Kunstkino. Schon ihre älteren Filme („Tomboy“, „Bande de filles“) sorgten diesbezüglich für Aufsehen, blieben aber unter dem Radar der breiteren Öffentlichkeit. Dass der Diskurs sich seit #MeToo gewandelt hat, verleiht Sciammas Schaffen nun merklichen Aufwind. Die Rolle der Vorkämpferin steht ihr gut an. Schon lang setzt sie sich für Geschlechterparität in der Filmindustrie ein, in der Bewegung „50/50 by 2020“ wie in eloquenten Interviews; bei „Jeune fille“ bildeten Frauen die Hälfte ihres Teams.

Fans sehen in Sciammas subtiler Ästhetik ein Korrektiv zum sprichwörtlichen „männlichen Blick“, dem sie ausbeuterischen Voyeurismus attestieren. Als Buhmann dient hierbei oft Abdellatif Kechiche, dessen lesbische Liebesgeschichte „Blau ist eine warme Farbe“ 2013 den Hauptpreis von Cannes gewann – doch aufgrund seiner expliziten Sexszenen heftig kritisiert wurde. Sciamma selbst hat Kechiche verteidigt: Sie fordert ein Nebeneinander der Perspektiven, keinen Wettbewerb.

Fingerspiel in Achselhöhlen

Die Erotik in „Portrait“ ist jedenfalls zurückhaltender: Sie reicht von intensiven Blicken über Großaufnahmen von Gesichtspartien bis zum Fingerspiel in Achselhöhlen. Lodernde Leidenschaft legt sich ins Knistern des Kamins, in zweisame Vivaldi-Exegese am Spinett, im Zuge einer markanten, traumartigen Sequenz auch in ein feuriges A-cappella-Stück. Oder in die Textur feiner Leinen: Grün bei Héloïse, rot bei Marianne, strahlend vor graublauen Kulissen eines bürgerlichen Anwesens. Ob man das nun der dargestellten Zeit entsprechend, sinnlich oder keusch findet, liegt im Auge der Betrachtenden.

So oder so: Der Film will nicht in erster Linie explosive gleichgeschlechtliche Begierde zeigen, sondern vor allem, wie seine Hauptfiguren sich den Raum für dieses Begehren erarbeiten. Sciamma rückt die Frage der Repräsentation ausdrücklich in den Mittelpunkt: Wer darf wen auf welche Weise abbilden? Welche Geschichten und Gefühlswelten werden von Kunstwerken bewahrt, welche nicht? Frauen durften keine Männerakte malen, Marianne tut es heimlich trotzdem. Ihre Beziehung zu Héloïse ist auch eine feministische Solidargemeinschaft: Zusammen stellen sie mit dem Dienstmädchen Sophie eine Abtreibung nach, um das Tabuthema per Gemälde zu dokumentieren.

In diesem didaktischen Impetus liegen Stärken und Schwächen des Films, dem zuweilen etwas Kühles, Akademisches anhaftet – als hätte er die erzwungenen Zügelungen des 18. Jahrhunderts selbst verinnerlicht. Doch sehenswert ist sein intelligentes Emanzipationsporträt allemal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2019)

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