Musikwissenschaft

Mit „Seytenspil der Musica“ gegen Krankheiten

Diese in der Nationalbibliothek beherbergte Schrift (14. Jhd.) geht auf das Werk „Erhalt der Gesundheit“ des irakischen Arztes Ibn Butlan zurück.
Diese in der Nationalbibliothek beherbergte Schrift (14. Jhd.) geht auf das Werk „Erhalt der Gesundheit“ des irakischen Arztes Ibn Butlan zurück.ONB/Wien Cod. Ser. n. 2644, fol. 103v
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Die antike Idee des heilsamen Einflusses von Musik setzte sich im Kontext arabischsprachiger Schriften auch im europäischen Mittelalter fort. In Krankenhäusern spielten Musiker allerdings nur im Nahen Osten auf.

Blut, schwarze Galle, gelbe Galle, Schleim – geraten diese vier Körpersäfte aus dem Gleichgewicht, schlägt sich das auf Körper und Geist nieder. So eine bis ins 18. Jahrhundert gängige Vorstellung von Krankheit. Der Ursprung dieses Gedankens reicht zurück in die Antike zu Hippokrates. Genauso alt ist die Vorstellung, dass Musik seelische Zustände beeinflussen kann und eine Möglichkeit darstellt, die Säfte wieder in Balance zu bringen.

Bestimmten Tonarten wurde dabei eine spezifische Wirkung zugeschrieben. „Besonders anerkannt war bei Platon der Dorische Modus (eine Oktavgattung des altgriechischen Tonsystems Sýstema Teleion; Anm.), der als männlich und stark galt“, sagt die Musikwissenschaftlerin und Psychologin Andrea Korenjak von der Universität Wien. „Andere Modi wurden abgelehnt, weil sie die Seele weich machen.“

Temperamente und Saiten

Der Anfang des 3. Jahrhunderts tätige Arzt Galen von Pergamon entwickelte diese Krankheitslehre (Humoralpathologie) systematisch weiter. Er verband sie mit den vier Temperamenten Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker und Phlegmatiker. Galen, der das medizinische Wissen seiner Zeit zusammenfasste, beschrieb in seiner Diätetik sechs Lebensbereiche, auf deren Balance zu achten sei. Seine Empfehlungen für seelische Belange umfassten neben Spaziergängen und guten Gesprächen auch Musik. Galen vertrat also die Auffassung von Musik als Mittel zum Erhalt der Gesundheit, wie bei Hippokrates hatte sie für ihn aber keine zentrale Bedeutung.

Anders in der arabisch-islamischen Welt, wo die Vier-Säfte-Lehre großen Anklang fand: Der Philosoph und Arzt al-Kindī griff im 9. Jahrhundert die Idee auf und verband sie mit differenzierteren musikmedizinischen Vorstellungen. Er ordnete den vier Säften nicht nur bestimmte Rhythmen und Klanggeschlechter, sondern sogar die vier Saiten der arabischen Laute sowie damit verbundene Tugenden zu: So stand etwa die A-Saite für den Schleim und für Milde, die G-Saite für das Blut und den Intellekt. Ein Mangel eines Saftes konnte durch entsprechende Musik, die diesen stärkte bzw. den „Gegenspieler“ schwächte, ausgeglichen werden.

Das Konzept der vier Säfte ist ein Beispiel dafür, wie Wissen zwischen arabisch-islamischer Welt und dem Westen ausgetauscht, adaptiert und vermehrt wurde. In einem von der Österreichischen Nationalbank geförderten Projekt hat Korenjak seit Ende 2017 diesen kulturellen Wissenstransfer mit einem speziellen Fokus auf die Rolle von Musik erforscht. Ergebnis ist die kulturvergleichende Monografie „Musik, Ethos und Medizin“ (noch unveröffentlicht) über die faszinierende Wechselwirkung musikmedizinischer Konzeptionen in Zentraleuropa und dem arabisch-islamischen Kulturbereich.

Musiker im Krankenhaus

Während in Europa Musik als Therapie vorerst lediglich ein theoretisches Konzept blieb, empfahlen arabische Ärzte ihren Patienten tatsächlich bestimmte Musik. Korenjak stieß in den Schriften einer im 10. Jahrhundert zusammengetretenen Bruderschaft in Basra und Bagdad, deren Mitglieder eine der vollständigsten mittelalterlichen Enzyklopädien verfassten, auf konkrete Hinweise darauf, dass Musik sogar Anwendung in Krankenhäusern fand.

Der Transfer von medizinischen Konzepten passierte durch Migration sowie durch Übersetzungstätigkeit in geistigen Zentren wie Alexandria und Bagdad. „Die Schriften wurden jedoch nicht nur wortwörtlich ins Arabische übersetzt, sondern in den eigenen Kontext integriert, erweitert und mitunter metaphorisch ausgestaltet“, so Korenjak. Die Bebilderungen der Texte tun das Ihrige: Da sitzt schon einmal Platon arabisch gekleidet im Gras und zähmt wilde Tiere mit einer Laute. „Es gibt eine eigene literarische Gattung, in der man berühmte Philosophen einander begegnen und diskutieren lässt. Das beruht nicht immer auf Fakten, es geht darum, Ansichten und Theorien zu veranschaulichen.“

Korenjak analysierte u. a. Parabeln für die Mächtigkeit von Musik, wie sie etwa im Alexander-Epos des persischen Dichters Nizamī (12. Jhd.) zu finden sind, in dem Platon und Aristoteles zu einem Wettstreit über ihre musikalischen Fertigkeiten antreten. Beide versetzen Tiere in Ohnmacht, aber nur Ersterem gelingt es, diese mit der richtigen Tonart wieder zum Leben zu erwecken. „Diese Parabel macht zum Beispiel deutlich, dass die Musikphilosophie Platons höher eingeschätzt wurde.“

Korenjaks Forschung unterstreicht, dass medizinisches Wissen keine alleinige Errungenschaft des Westens ist, sondern sich im wechselseitigen Austausch mit dem Nahen Osten angehäuft hat.

Im 11. und 12. Jahrhundert gelangte die Lehre von der Wirkung der Musik auf die Gesundheit mit der Rezeption arabischer Schriften wieder zurück nach Europa. „Die musica humana, also die Vorstellung, dass die Musik Körper und Seele harmonisieren kann, lebte durch die Übersetzung arabischer Schriften ins Lateinische nochmals auf“, erklärt die Musikwissenschaftlerin, „allerdings nach wie vor nicht so ausgeprägt wie im arabischen Kulturkreis, wo dies auch praktiziert wurde.“

Später Paradigmenwechsel

Die heutige Musiktherapie ist freilich losgelöst von solchen Vorstellungen. „Hier geht es um Selbstwirksamkeit und nonverbale Kommunikation“, sagt Korenjak. „Die Patienten musizieren gemeinsam mit dem Therapeuten. Ziel ist, sich mit Musik auszudrücken.“ Der Wandel von der rezeptiven Musiktherapie, der zufolge Musik an sich heilsam ist und man mit ihren Klängen den Körper in Harmonie versetzen kann, zu modernen improvisatorischen Ansätzen erfolgte erst mit Aufkommen der institutionalisierten Psychiatrie. In einem weiteren, vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Elise-Richter-Projekt untersucht Korenjak aktuell deren Ursprünge in Wien und die ersten konkreten Versuche hier, ab Ende des 18. Jahrhunderts Musik in die neu gegründeten Psychiatrien zu integrieren.

„Erstmals gab es die Möglichkeit, die Wirkung von Musik systematisch zu erforschen. Davor gab es vornehmlich Lobgesänge darauf mit wiederkehrenden Beispielen.“ Wissenschaftliche Belege blieben aus. Korenjak: „Im 19. Jahrhundert machte man die Erfahrung: Musik hat einen Einfluss, aber nicht so wie über Jahrhunderte besungen, sondern sie ist als Ablenkung und Amüsement wertvoll. Man ging weg von der Idee einer universellen Wirkung von Musik und stellte bereits damals Überlegungen zur Individualität von Kranken an.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2020)

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