Netflix-Film

„Uncut Gems“: Die Tragödie eines Glücksritters

Adam Sandler in Höchstform: Howard Ratner schiebt sich schimpfend und Waren anpreisend durch das Manhattan Diamond District.
Adam Sandler in Höchstform: Howard Ratner schiebt sich schimpfend und Waren anpreisend durch das Manhattan Diamond District.(c) Courtesy Netflix
  • Drucken

Adam Sandler spielt in „Uncut Gems“ eine finstere Version seiner typischen Komödienfiguren: Einen in einer turbokapitalistischen Schleife gefangenen Juwelenhändler.

Es ist eine der besten Anfangssequenzen der letzten Kinojahre: Nach einem Arbeitsunfall wird ein äthiopischer Opalminenarbeiter mit offenem Unterschenkelbruch ins Freie getragen, während zwei Kollegen die Gelegenheit nützen und unbeobachtet einen Edelstein aus dem Schacht meißeln. Die Männer werden genauso wie die Kamera und damit auch der Zuschauer von der irisierenden Transluzenz dieses Opals angezogen, hineingesogen in sein Inneres, wo man zu Synthie-Musik durch Nebulae und feste Formationen in Regenbogenfarben fliegt und schließlich, beinahe unbemerkt, in fleischähnlichem Gewebe ankommt.

Dann fährt die Kamera zurück und wir erkennen einen medizinischen Monitor, auf dem gerade koloskopische Innenansichten von Howard Ratners Darm zu sehen sind. Reinste Kino-Alchemie also, die nun auf Netflix zu sehen ist: In den ersten Minuten von „Uncut Gems“ (unsinniger deutscher Titel: „Der schwarze Diamant“) reist man von anorganischer zu organischer Materie, von Äthiopien nach New York City und überspringt dabei noch zwei Jahre. 2012 erhält Juwelenhändler Ratner (Adam Sandler), versteckt in einem tiefgefrorenen Fisch, den auf dem Schwarzmarkt erworbenen afrikanischen Opal, der ihm auf einer Auktion eine runde Million einbringen soll.

Sandler spielt diesen Glücksritter dauerangespannt als Kerl mit manischen Bewegungsmustern, der sich schimpfend und anpreisend durch den labyrinthischen Cluster aus Verkaufssuiten und Pfandhäusern schiebt, den man als Manhattan Diamond District kennt. Motor hier ist die offenliegende Gier: Sie leitet alles Leben und Treiben in dieser eigentümlichen Zwischenwelt an, ihr wird gefrönt, ihrer schämt man sich jedenfalls nicht. Die New Yorker Brüder Josh und Benny Safdie kennen die Gegend gut, ihr Vater hat hier gearbeitet. Schon vor zehn Jahren versuchten die damals unbekannten Indie-Regisseure, diesen Film zu drehen, scheiterten aber an der Finanzierung.

Ein zeitloses, authentisches Filmjuwel

Jetzt, zwei Jahre nach ihrem Achtungserfolg mit dem Krimi „Good Times“, hat es geklappt, sogar mit Adam Sandler, der die Rolle einst noch abgelehnt hatte. In „Uncut Gems“ läuft er zur Höchstform auf: Er legt Howard Ratner als Variation seiner früheren Komödien-Charaktere an, wie auch der gesamte Film als finstere Variante des klassischen Sandler-Lustspiels lesbar wird, in dem ein mehr oder minder bemittelter Durchschnittskerl dem geballten Lebensunglück aus eigener Kraft trotzt. Katharsis liefern die Safdies allerdings ebensowenig wie eine gewöhnliche Dramaturgie: Ratner muss im Dauertransit sein, weil auch das Kapital immer im Fluss ist; muss ständig neues Geld auftreiben, weil seine Gläubiger schon schlagfertige Eintreiber auf seine Fersen hetzen. Er hat seinen Opal einem Basketball-Star als Glücksbringer geborgt (NBA-Champion Kevin Garnett spielt sich selbst) und dafür dessen diamantenen Ring verpfändet, um mit dem Bargeld auf ihn zu wetten und hoffentlich, hoffentlich zu gewinnen, weil sonst Schicht im Schacht ist . . .

Seine Frau und Kinder, seine Verwandten, seine Geliebte sieht er nur im Vorbeigehen. Die Safdies machen klar, dass Ratner in einer turbokapitalistischen Dauerschleife aus Abhängigkeiten gefangen ist – und dadurch alles, was nicht geldwert ist, verloren hat. „Uncut Gems“ ist auch ein Milieufilm, besetzt mit Schauspielern und Laien und geprägt von einer Straßenschläue und Authentizität, die nicht zufällig an „Hexenkessel“ von Martin Scorsese erinnert, der hier mitproduziert hat.

All das wird frenetisch eingefangen von Kamera-Ass Darius Khondji, konterkariert von der schwerelosen Filmmusik von Daniel Lopatin und flankiert von psychotrop wirkenden Flügen durch das Edelsteininnere, die von den Mikrofotografien von Eduard Josef Gübelin inspiriert sind und eine Sinnlichkeit behaupten, ein Staunen einfordern, ein Bewundern verlangen.

Und gleichzeitig weiß man: Howard Ratner ist dazu nicht mehr fähig. Er kann nur mehr kaufen, verkaufen, gewinnen, verlieren. Sein Leben ist eine moderne Tragödie. Und dieser Film eine zeitlose Gemme.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2020)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.