Wort der Woche

Weibliche Heilige

Rund ein Viertel der Figuren im Wiener Stephansdom zeigt weibliche Heilige. Wie dieser Prozentsatz zu bewerten ist, darüber kann man unterschiedlicher Ansicht sein.

Betritt man den Wiener Stephansdom, muss man angesichts des überwältigenden Raumeindruckes schon genau schauen, um die vielen Heiligenstatuen zu bemerken, die sich auf Pfeilern, Toren, Kanzeln, Altären usw. tummeln. Die österreichische Kunsthistorikerin Ilse Friesen (die lang in Kanada forschte) hat genau hingesehen: Sie stieß auf Darstellungen von 131 heiligen Menschen – und wie sie in ihrem eben erschienenen Buch „Die weiblichen Heiligen im Stephansdom“ (496 S., Berger, 39,90 €) ausführt, finden sich darunter 33 Frauen. In einem Folgeband will sie ihre Untersuchungen auf alle Kirchen Wiens ausweiten – von denen mehr als 90 männlichen Heiligen geweiht sind, 63 der Maria und 27 verschiedenen weiblichen Heiligen.

Wie kann man dieses Geschlechter(miss)verhältnis bewerten? Man kann es so oder so sehen: Einerseits ist der Frauenanteil deutlich niedriger als jener der männlichen Heiligen. Wenn man andererseits aber bedenkt, wie unterprivilegiert Frauen in der Kirche waren (und sind), sind die Prozentsätze gar nicht so verschwindend klein. Man erinnere sich: Im frühen Christentum war die Gleichstellung von Mann und Frau verkündet worden – auch in den Briefen des als Frauenhasser verschrienen Paulus tauchen viele Frauen in führenden Positionen auf. Das änderte sich aber: Sie wurden später immer wieder zu Männern umgedeutet, wie im Fall der Junia, die im Spätmittelalter zu einem Junias wurde. In der feministischen Theologie wird – zu Recht – darauf hingewiesen, dass Geschichte(n) von Männern für Männer geschrieben wurde(n).

Seit Langem nehmen manche Forscher an, dass in früheren Zeiten die „Große Göttin“ den Ton angab – davon zeugen u. a. die rund 130 steinzeitlichen Venus-Figurinen, die von Archäologen gefunden wurden. Interessante Einblicke in diese Epoche gibt die deutsche Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth in ihrem kürzlich erschienenen dritten Band ihrer „Geschichte matriarchaler Gesellschaften und die Entstehung des Patriarchats“ (448 S., Kohlhammer, 37 €). Sie argumentiert, dass sich in dieser Betonung der Weiblichkeit ein Wiedergeburtskult und eine starke Stellung von Frauen in der Gesellschaft manifestiere, die erst später durch patriarchale Strukturen verdrängt wurde.

Diese These ist in der Fachwelt freilich höchst umstritten. Doch allein schon das Nachdenken und die Diskussion darüber schärfen das Bewusstsein dafür, dass Gesellschaftssysteme nicht naturgegeben sind, sondern sich ändern können.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2020)

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