Griechenland/Peloponnes

Spirituell abtauchen: In der Doline von Didyma

Höhlenkirche in Didyma in der Argolis auf der Peloponnes.
Höhlenkirche in Didyma in der Argolis auf der Peloponnes.Getty Images/iStockphoto (jacquesvandinteren)
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Um dem Himmel näher zu kommen, muss man auf der Peloponnes keine Gipfel erklimmen, sondern in den Krater hinabsteigen. Dort verwächst eine Kirche, nicht größer als eine Gartenlaube, mit dem Felsen.

Über schiefe Stufen eines unterirdischen Tunnels geht es hinunter in das Innere eines Kraters. Umringt von senkrecht abfallenden Felswänden dringt kein Geräusch mehr herunter, nur aus der Tiefe des Kessels erklingen leises Vogelzwitschern und Blätterrauschen. Die Scheinwerferstrahlen der Nachmittagssonne lassen das Gestein in überirdisch schönem Lavarot erglühen, Zeit sickert so langsam auf den Grund des Kraters wie Zucker in einer Tasse griechischen Kaffees.

Die schüsselförmige Senke unweit vom Dorf Didyma ist eine Doline, irgendwann in grauer Vorzeit durch den Einsturz mehrerer Karsthöhlen entstanden. Die Griechen nennen sie Mikri Spilia, kleine Höhle. 80 Meter tief und 120 Meter Durchmesser: Maße, die gar nicht so gewaltig klingen, wie sie sich anfühlen, wenn man im Bauch der Doline gelandet ist. Gerahmt von den Rändern des Kraters scheint der Himmel von unten aus rund und so unwirklich nah, als läge er unter einem Vergrößerungsglas.

Wo der Zyklop hauste und Odysseus bedrohte

Bei dieser Aussicht mussten griechische Gläubige zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass die Doline von Didyma ein idealer Ort für Einkehr und Gebet ist. Dagegen sprachen aber die antiken Mythen. Den Eingang des Hades haben die alten Griechen hier vermutet, und auch der Zyklop, der Odysseus' Leben bedrohte, soll vorübergehend in der Doline gehaust haben.

Davon unbeeindruckt zogen sich Eremiten in die Höhlen des Kraters zurück. In byzantinischer Zeit war es gängige Praxis, dass einige Mönche die Gemeinschaft des Klosters verließen, um in Askese ihren Frieden zu finden. Nur wenigen auserwählten Mitbrüdern war es gestattet, diese Einsiedler zu besuchen und nach deren Tod kleine Kirchen im Inneren oder in der Nähe ihrer Höhlen zu errichten. So auch in der Doline von Didyma. Im 13. Jahrhundert bauten Mönche eine erste Kirche in den Krater. Agios Georgios, ein Gotteshäuschen im Format einer Gartenlaube. Der Felsen, an dem die Kirche klebt, wurde an dieser Stelle weiß getüncht und als Rückwand in den Bau integriert. Unter einer tiefschwarz verrußten Decke dämmern verwitterte Fresken und Ikonen vor sich hin. Weil im Inneren von Agios Georgios nur Platz für eine Handvoll Menschen ist, wurden Kirchenbänke davor aufgestellt. Wie ein Damoklesschwert hängt ein mächtiger Kalksteinblock darüber. Kein Grund zur Sorge. Nur Frauen und Wassermelonen sind Glückssache, sagen die Griechen, alles andere liegt in Gottes Hand, angeblich.

Der griechisch-othodoxe Sinn fürs Praktische

Zum Beweis für ihr Gottvertrauen errichteten Mönche auf der Nordseite des Kraters noch eine zweite Kirche, Metamorfosis tou Sotiros, die sie direkt in den Fels gruben. Drinnen zeigt sich der griechisch-orthodoxe Sinn für das Praktische: Säcke voller Putzfetzen hängen neben blank polierten Kerzenständern. Limoflaschen mit Lampenöl, Besen und Schachteln voller kleiner Weihrauchbrocken lagern in einer Ecke, und als käme Gott gelegentlich auf ein Tavli-Spiel und ein Glaserl Wein vorbei, stehen ein Esstisch und Stühle bereit. Das ist die gute Stube des griechischen Glaubens.

In einem Karton werden Kerzen bevorratet. Zuoberst hat jemand eine kleine Karte mit dem Gedicht „Kerzen“ von Konstantinos Kavafis gelegt: „Die zukünftigen Tage stehen vor uns wie eine Reihe brennender Kerzen – goldene, heiße Kerzen voller Leben. Die vergangenen Tage bleiben zurück, eine traurige Reihe erloschener Kerzen; Ich will sie nicht betrachten; (. . .) damit ich nicht erschaudernd seh, wie schnell die dunkle Reihe länger wird, wie schnell die erloschenen Kerzen sich mehren.“ Wer würde es nach dem Lesen dieser melancholischen Zeilen wohl dabei belassen, nur eine einzige Kerze anzuzünden? Hier muss ein ganzer Wachswald gegen Wehmut und Angst abbrennen. Die vielen Münzen auf einem Teller bestätigen die Vermutung, dass der Verkauf floriert.

Agios Georgios: ein materieller wie geistiger Ort

Generationen von Gläubigen haben hier schon gebetet, nicht nur an hohen Feiertagen, wenn sich die Gemeinde von Didyma in der Doline versammelt. Auch Touristen, die durch diese Ecke der Peloponnes reisen, finden früher oder später dorthin, selbst dann, wenn sie die Erwähnung der Kraterkirchen überlesen haben. An einem übernatürlichen Magnetismus liegt das nicht, sondern daran, dass der riesige Krater im Berghang für niemanden zu übersehen ist, der sich auf den Weg in den beliebten Küstenort Ermioni macht. Allerdings handelt es sich bei dieser auffallenden Vertiefung um Megali Spilia, die große Höhle, die mit ihrem Durchmesser von 165 Metern die Aufmerksamkeit der Touristen auf sich zieht. Erst beim Näherkommen entdecken sie dann in unmittelbarer Umgebung die zweite, versteckt liegende Doline samt ihren Kirchen.

Wer sie betritt, wird Teil einer jahrhundertealten Besucherbewegung, bestehend aus Gläubigen und Neugierigen, Staunenden und Stillesuchenden. Sie alle haben Gedanken und Gefühle dort zurückgelassen, die noch immer an den Karstwänden haften wie Patina, und deshalb gibt es die Doline von Didyma auch zweimal – sichtbar und unsichtbar. Aus Stein, Holz und Wachs und aus Erinnerungen, Mythen und Legenden. Ein materieller, ein geistiger Ort. Bei dieser Vorstellung stellt sich selbst bei religiösen Zaungästen ein wenig Spiritualität ein, und für einen Augenblick glaubt man sich in der Stille und Einsamkeit der Doline dem Seelenfrieden eines Mönchs so nah wie dem kreisrunden Himmel über dem Krater. Möwen segeln durch das leuchtende Blau. Mit ihren ausgebreiteten Flügeln sehen sie aus wie lauter kleine Kreuze.

Kirchen und Krater

Lage. Die Doline Mikri Spilia liegt westlich vom Dorf Didyma in der Präfektur Argolis.
Sehenswert. In unmittelbarer Nähe befindet sich ein zweiter größerer Krater, Megali Spilia, der auf dem Weg von Nafplio nach Ermioni schon von fern zu erkennen ist. Die größere der beiden Dolinen lässt sich aus der Distanz gut fotografieren. Zu Unrecht in kaum einem Reiseführer erwähnt, beeindruckt die nördlich von Didyma, unweit vom Dorf Pelei gelegene Klosteranlage Agios Dimitrios Avgou, die in einen Felshang gebaut wurde.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.03.2020)

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