Intensivmedizin in Österreich

Vom Leben und Sterben hinter der Sicherheitsschleuse

Michael Joannidis
Michael Joannidis(c) Thomas Steinlechner
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Das Coronavirus stellt Intensivstationen ins Scheinwerferlicht. Ärzte und Pfleger kämpfen dort um das Leben von Patienten, ihre Tätigkeit hat sich dabei dauerhaft verändert. Obwohl die Krise vorerst überwunden scheint, gibt es Kritik. Denn die hohe Bettendichte im Land rettet Leben, ist aber nicht effizient.

Ein Arbeitstag, der erst beginnt, wenn man es auf die andere Seite geschafft hat. Behutsam wird zunächst – streng nach schriftlicher Anleitung – jedes Utensil nach der Reihe angezogen: Weiße Schutzhaube, Brille, FFP3-Maske und eine doppelte Schicht Gummihandschuhe. Sobald die Montur den Leib von Kopf bis Fuß bedeckt, darf die Sicherheitsschleuse passiert werden. Doch wer durch sie hindurchgeht, kommt erst Stunden später wieder heraus. Der Weg auf die Toilette oder zu einem Wasserglas ist in der Zwischenzeit verstellt. Dafür bleibt ohnehin meist keine Zeit.

Erst wer Ärzten und Pflegern der Intensivstationen des Landes zugehört hat, füllt das abstrakte Bild, das der ritualisierte TV-Corona-Zwischenstand allabendlich durch die Wohnzimmer flimmert, allmählich mit konkreten Inhalten. Plötzlich wird es lebhaft vorstellbar, wie klitschnass die Haut unter der Schicht an Schutzmaterial, wie beschwerlich der Weg von Zimmer zu Zimmer, wie belastend der Anblick von Menschen sein muss, die sich über Tablets oder Handys von ihren Familien verabschieden, bevor sie intubiert und – wenn alles gut geht – zwei Wochen später aus der Narkose wieder aufwachen.

Sein Arbeitsalltag habe sich „von Grund auf verändert“, erzählt Leo Rosenthaler. Der 41-Jährige betreut als Krankenpfleger auf der Covid-Intensivstation im Krankenhaus Hietzing derzeit fünf Covid-Patienten. Das Spital im 13. Wiener Bezirk versorgt neben dem Kaiser-Franz-Josef-Spital die meisten Wiener Fälle. „Momentan ist der Pflegeaufwand so hoch, dass wir fast bei einer Eins-zu-Eins-Betreuung liegen“, erzählt auch Theresa Krabichler, die im St. Vinzenz-Krankenhaus in Zams mit Kollegen aktuell elf Covid-Patienten betreut. Im Schnitt müsse sie sich um zwei Patienten pro Tag kümmern. Dabei verbringt die junge Frau fünf bis sechs Stunden hinter der Sicherheitsschleuse, bevor sie erstmals Pause machen und sich „ausschleusen“ und etwas trinken kann.

Die Zammer Krankenpflegerin Theresa Krabichler bei der täglichen Prozedur vor der Sicherheitsschleuse.
Die Zammer Krankenpflegerin Theresa Krabichler bei der täglichen Prozedur vor der Sicherheitsschleuse.(c) KH Zams

Aufgrund der limitierten Menge an Schutzmaterial sei es nötig, den Isolationsbereich so selten wie möglich zu verlassen. Die Situation sei „auf alle Fälle belastend“, sagt Krabichler. „Vor allem durch die Schutzausrüstung ist es einfach sehr heiß.“ Der Ausgleich am Abend mit Freunden und Familie fällt zudem flach. Sie tausche sich jetzt vermehrt mit Kollegen aus, sagt die Pflegerin. Die psychologische Hilfe, die im Spital angeboten wird, habe sie bisher nicht in Anspruch genommen.

Tiroler Pionierarbeit als „Erfolgsmodell“

Die Klinik im Tiroler Oberland rückte in der Coronakrise ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 800 Mitarbeiter sind in Zams normalerweise für rund 100.000 Einwohner und weitere 100.000 Touristen zuständig, die meist aus dem Einzugsgebiet der Täler stammen, die jeder Skifahrer kennt. Ötz-, Pitz- und Paznauntal fallen darunter. Durch die Vorkommnisse in Ischgl zählte Zams zu jenen Spitälern, die als erste Covid-Fälle versorgten.

»Die Koordination zwischen den Spitälern sei ein Tiroler "Erfolgsmodell".«

Um der Anzahl der schweren Covid-Verläufe Herr zu werden, musste die Intensivstation logistisch „komplett umgebaut“ werden, wie der Leiter der Inneren Medizin und der internistischen Intensivstation, Ewald Wöll, der „Presse am Sonntag“ erzählt. Die Station, die er mit dem Leiter der Anästhesie interdisziplinär führt, brauchte Unterstützung. Pflegepersonal anderer Stationen musste rekrutiert werden. Veränderungen provozierte das Virus aber nicht nur in der Logistik, sondern auch im Kopf der Mitarbeiter: „In der täglichen Praxis hat es für uns viel Umdenken gebraucht, dass die Patienten viel länger da sind“, sagt Wöll. 14 Tage und länger würden diese meist beatmet. „Das Gefühl, dass sich das so lange nicht bessert“, sei für alle ungewohnt und belastend gewesen.

(c) KH Zams

Inzwischen sei man in der Lage, die ersten wieder zu extubieren und auf normale Stationen zu verlegen. Das seien „Erfolgserlebnisse für das ganze Team“. Die schwersten Fälle aber werden weiter nach Innsbruck verlegt. Dort ist man an diese nun gewöhnt. „Bei uns hat es sich über Zams angekündigt“, sagt Michael Joannidis, Leiter der Intensivstation für Innere Medizin an der Innsbrucker Uni-Klinik. „Spätestens da wussten wir, dass wir für Tirol aktiv werden müssen.“ Innsbruck entwickelte sich zum Zentrum der Coronakrise im schwer betroffenen Bundesland. Von den rund 40 Covid-Intensivpatienten sei aber inzwischen die Hälfte bereits entlassen worden. „Wir haben nicht viele verloren“, sagt der 59-Jährige. Die Sterblichkeit sei „sehr niedrig.“

Auf dem Höhepunkt der Fallzahlen Mitte März wurden jedoch auch dort organisatorische Veränderungen nötig. Wie im Pandemieplan definiert, wurden einige der neun Intensivbereiche in Covid-Stationen umgewandelt. Insgesamt waren es vier, die „proaktiv ausgeweitet“ wurden, sagt Joannidis. Personal rekrutierte man wie in Zams vor allem aus der Anästhesie. In Telefonkonferenzen tauschten die Intensivmediziner des Bundeslandes dreimal wöchentlich Erfahrungen aus. Die informelle Koordination innerhalb der Spitäler nennt Joannidis deshalb ein Tiroler „Erfolgsmodell“.

»Die "Kleingartenstruktur" der heimischen Intensivmedizin gilt als wenig effizient.«

Als Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Internistische und Allgemeine Intensivmedizin und Notfallmedizin bemühte sich Joannidis auch um eine Kooperation über die Bundesländergrenzen hinweg. Diese passierte allerdings eher auf privatem, denn auf offiziellem Weg – eine zentrale Koordination gab es zu keinem Zeitpunkt. „Wenn das Problem viel größer gewesen wäre, dann wäre eine nationale Koordination nötig geworden“, meint der Mediziner.

Föderalismus-Dilemma als „Achillesferse“ im System

Wie diese aussehen könnte, ist indes fraglich. Denn am Beispiel der Covid-Intensivbetreuung zeigt sich seit Wochen recht anschaulich, wie föderalistisch das heimische Gesundheitssystem agiert. Herauszufinden, über wie viele Intensivbetten die Bundesländer verfügen, wo derzeit besonders viele Covid-Patienten ein solches belegen, bzw. welche Spitäler besonders betroffen sind, wird vom Umstand erschwert, dass der heimische Kompetenzdschungel zwischen Bund und Ländern beim Thema Gesundheit besonders dicht erscheint.

So gibt es nicht einmal eine nationale Stelle, die Daten zentral koordiniert. „Der Föderalismus ist die größte Achillesferse im System“, kritisiert das Gesundheitsökonom Florian Bachner vom Kompetenzzentrum Gesundheit Österreich, der von einer „Fragmentierung“ des Systems spricht.

Will man Details über die heimischen Intensivstationen wissen, ist auf der Website des Ministeriums lediglich ein Bericht aus dem Jahr 2018 („Krankenanstalten in Zahlen“) zu finden. Dieser weist für Österreich 266 Spitäler aus, von denen 181 über eine Akutversorgung verfügen. Die meisten findet man in  Oberösterreich (32), gefolgt von Wien (29) und der Steiermark (27). Davon bieten Niederösterreich und Wien mit je 18 die meisten Intensivstationen an. Die insgesamt meisten Intensivbetten gibt es in Wien (696), der Steiermark (396) und in Oberösterreich (376). Insgesamt gab es 2018 österreichweit 2547 Intensivbetten, von denen im Schnitt 82 Prozent belegt waren. Gesundheit Österreich spricht jedoch von derzeit 2171 Intensivbetten, von denen rund 500 verfügbar seien.

»"Das ist herzzerreißend. Da muss man aufpassen, dass keine Tränen kullern."«

Leo Rosenthaler, Pfleger auf der Covid-Intensivstation im Krankenhaus Hietzing

Die unterschiedlichen Angaben ergeben sich nicht zuletzt aus dem Umstand, dass sich die Zahl der Betten täglich ändert. Allerdings scheint die fehlende bundesweite Koordination ein weiterer Grund zu sein. Auf Anfrage werden aus den Büros des Wiener Gesundheitsstadtrats, des Landes Oberösterreich sowie Tirols unterschiedliche Zahlen gemeldet. Am täglich aktualisierten Covid-Dashbord werden mit Stand Freitagabend 968 freie Intensivbetten ausgewiesen. Wie sich diese auf die Bundesländer aufteilen, bleibt aber ein Geheimnis der regionalen Krisenstäbe und Landessanitätsdirektionen.

Trotz der fehlenden Koordination scheint die Intensivversorgung im Land aber recht gut zu funktionieren. Wie Bachner in seiner Systemanalyse „Das österreichische Gesundheitssystem“ aufzeigt, entspricht die Bettenzahl in Österreich im internationalen Vergleich einem „recht guten Wert“ und sei „unter normalen Umständen auch ausreichend“. Mit 28,9 Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern rangiert Österreich im OECD-Vergleich an zweiter Stelle hinter Deutschland (33,3 Intensivbetten) und vor den USA (25,8).

Starker Fokus auf intramuraler Versorgung

Das allerdings zeigt wiederum, wie stark sich das heimische System auf die intramurale (d. h. innerhalb der Spitalsmauern stattfindende) Versorgung ausrichtet. So hat Österreich die zweithöchste Krankenhausdichte aller EU-Staaten. Die extramurale Versorgung, die etwa von niedergelassenen Ärzten gewährleistet wird, ist hingegen weniger stark ausgeprägt.

Dieser Überhang der Spitäler im System hat sich in der Krise als Segen herausgestellt. Obwohl zuvor oft wegen Ineffizienz und Intransparenz kritisiert, gilt die hohe Bettendichte im internationalen Vergleich als kriegsentscheidender Vorteil im Kampf gegen das Coronavirus, da in Österreich rund 20 Prozent der hospitalisierten Fälle eine Intensivversorgung brauchen. Dass es derzeit so gut klappe, ändere aber „nichts an den Ineffizienzen“, sagt Bachner. Denn diese ortet der Experte nicht nur im ungebremsten Zustrom der Patienten in die Spitäler und deren Dominanz in der Versorgung, sondern eben auch in einer fehlenden überregionalen Planung.

»"Das Virus hängt wie ein Damoklesschwert über uns."«

Michael Joannidis, Leiter der internistischen Intensivstation an der Uni-Klinik Innsbruck

In eine ähnliche Kerbe schlägt Joannidis, der die „Kleingartenstruktur“ der heimischen Intensivmedizin in Frage stellt. „Es wäre besser, man hätte größere Einheiten, die flexibler agieren könnten“, wie das etwa in Deutschland der Fall sei. Eine Umstrukturierung sei aber nur sinnvoll, wenn die Ausbildung dem angepasst würde. Derzeit gilt die Intensivmedizin in Österreich als Sonderfach der Anästhesie und der Inneren Medizin. In der Schweiz hingegen gibt es sie als eigenständiges Fach.

Das Damoklesschwert schwebt weiterhin

Indes bleibt die Situation für das Gesundheitspersonal belastend. Schwierig sei es vor allem psychisch, berichten die Pflegekräfte. „Mir tut das weh“, sagt Rosenthaler. „Die Patienten haben keinen Besuch.“ Schon zweimal habe er beobachtet, wie sich Betroffene von ihren Liebsten über Tablets verabschieden mussten. „Das ist herzzerreißend. Da muss man aufpassen, dass keine Tränen kullern.“

Momentan aber scheint sich die Lage zu entspannen. „Wir hatten immer das Gefühl, wir sind einen Schritt voraus“, sagt Joannidis. „Aber natürlich war es für alle Beteiligten eine sehr belastende Situation.“ Derzeit baue man Kapazitäten zurück und sei „wieder Richtung Normalität“ unterwegs. Doch das Virus hänge weiter „wie ein Damoklesschwert über uns“, sagt Joannidis, da unklar sei, ob noch eine zweite Welle komme. Das sei zwar schwer abzuschätzen, aber: „Wir hoffen es nicht“.

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