Leben mit offenem Visier

Will auf die Bezeichnung Nationalliteratur verzichten. Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.
Will auf die Bezeichnung Nationalliteratur verzichten. Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. (c) Ulf Andersen
  • Drucken

Olga Tokarczuks Poesie dient nicht zum Verklären, sondern zum Vertiefen ihrer komplexen Beobachtungen und Analysen. Das beweist sie in den frühen Erzählungen des Bandes „Der Schrank“ wie in der Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises.

Alles, was lebendig ist, hat eine Geschichte. So auch der alte Schrank, den sich das Paar für die neue Wohnung kauft, einen Schrank mit Pflanzenornamenten an den Türen und einer Scheibe in der Mitte, in der sich die ganze Stadt spiegelt. Während die Ich-Erzählerin ein Gefühl der Unsinnigkeit ihrer Existenz beschleicht, streicht ihr Mann zärtlich über den hölzernen Körper des Schranks wie über den einer Kuh. Der Schrank wird im Flur unter Quarantäne gestellt und mit Terpentin bespritzt, sodass nachts die sterbenden Holzwürmer klagen. Eine Gabel mit eingraviertem Hakenkreuz findet sich in einer Fußbodenritze und ein Stück vergilbter Zeitung, auf dem nur das Wort Proletarier noch zu lesen ist. Von der ersten Nacht an, da der Schrank zur Wohnung gehört (und immer mehr zur Wohnung wird), träumen die Frau, der Mann und ihr Kasten dieselben Träume.

Magisch wird der Realismus in Olga Tokarczuks Texten immer wieder. Denn alles, was eine Geschichte hat, ist auch lebendig. Gleichzeitig mit den Erzählungen in „Der Schrank“ ist als Angebot einer vertieften Entschlüsselung ihrer Prosa auch die Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur erschienen. Darin legt Tokarczuk ihre Poetologie auf eine so schöne und offene Weise dar, dass die inspirierende Lektüre die Lesenden für die Person der Autorin im Sturm einnimmt.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.