Warum hat die große deutsche Elektronik-Band ihr Frühwerk verdrängt? Zum Tod ihres Co-Gründers Florian Schneider: eine Erinnerung.
Alljährlich wird in Bayreuth das musikdramatische Werk Richard Wagners aufgeführt. Halt, stimmt nicht ganz. Erstens: Heuer ist Corona-Pause. Zweitens: Nicht alle Wagner-Opern gelten als Bayreuth-tauglich: „Die Feen“, „Das Liebesverbot“ und „Rienzi“, um nur die vollendeten zu nennen, werden dort nicht gespielt. Wagner selbst hatte einst dekretiert, dass sie nicht zum Kanon gehören.
Ähnlich ist es mit dem Werk einer Band, die – wie Wagner – im englischen Sprachraum gern (und kaum je despektierlich) mit dem Adjektiv „teutonic“ verbunden wird: Kraftwerk haben ihre ersten drei Alben aus den Jahren 1970 bis 1973 nie auf CD veröffentlichen lassen, sie fehlen auch in der 2017 veröffentlichten Edition „3-D Der Katalog“, die eben nur die acht „offiziellen“ Alben in neuen, teils programmatisch in Museen eingespielten Live-Aufnahmen enthält.
Man versteht es ja. Wie Wagner seine frühen Opern unangenehm waren, weil sie zu stark an seine Wurzeln in der französischen Grande opéra erinnern, so hört man aus „Kraftwerk“, „Kraftwerk 2“ (schon mit Titeln wie „Wellenlänge“ oder „Spule“!) und „Ralf und Florian“ zu deutlich, woher diese Band gekommen war: aus der versponnenen Wunderwelt des Krautrock, wie man heute noch diese zwar an englischsprachige Vorbilder angelehnte, aber doch ganz eigenartige Musik aus dem Deutschland der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre nennt. Man höre etwa das Kraftwerk-Stück „Ruckzuck“: Der akademisch ausgebildete Flötist Florian Schneider spielt die Querflöte im hart perkussiven Stil der britischen Band Jethro Tull, daraus entsteht der für viele Krautrockbands (z. B. Neu!) typische ostinate Rhythmus, der allmählich maschinell wird und die Schienenklänge von „Trans Europa Express“ vorwegnimmt. Aber das Szenario ist noch verspielt, psychedelisch.
Deutsche Maschinenromantik
Oder „Tanzmusik“ aus dem Album „Ralf und Florian“: ein Marionettentheater wie später z. B. in „Die Roboter“, aber noch viel lieblicher, ja: romantischer.
Wobei: Ist das kanonisierte Werk von Kraftwerk nicht auch im Grunde romantisch? „Vor uns liegt ein weites Tal, die Sonne scheint mit Glitzerstrahl“, heißt es in „Autobahn“, und dann, mit ebenso monotoner Stimme: „Fahrbahn ist ein graues Band, weiße Streifen, grüner Rand.“ Hier wird die Idee der pittoresken Landschaft erweitert – um das, was man in den 1950er-Jahren „Wunder der Technik“ genannt hatte. Diese Begeisterung war schon im Abflauen – die Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland war 1970 schon stark –, als Kraftwerk ihr zeitlose Denkmäler setzten. So war ihre Ästhetik progressiv und nostalgisch zugleich: die Moderne im Rückblick. Und das mit einer Konsequenz, die britische und amerikanische Kollegen nicht wagten. Kraftwerk wollten keine genialischen Rockmusiker mehr sein, sondern Klangingenieure mit biederen Frisuren und Anzügen. Schneider, ein früher Nerd, ging seinem Kompagnon da voraus: Wo dieser auf dem Cover von „Ralf und Florian“ noch lange Federn trug, zeigte er sich mit Seitenscheitel und Krawatte.
Mit dieser Konsequenz legten Kraftwerk auch alle „natürlichen“ Instrumente beiseite, ersetzten sie durch Maschinen, die sie, die Maschinenmenschen, bedienten. Und das in einer Zeit, in der Synthesizer noch recht unzuverlässige Gesellen waren.
David Bowies Hommage an Schneider
Florian Schneider kümmerte sich besonders um die Maschinisierung der Stimmen, Robovox nannte er das, heute heißt skurrilerweise eine Firma für Staubsauger-Roboter (oder Roboter-Staubsauger?) so. David Bowie, ein großer Kraftwerk-Bewunderer, ahmte 1977 in „V-2 Schneider“ diese vokale Ästhetik nach. Man kann dieses Stück jetzt in Erinnerung an Florian Schneider hören.
Dazu natürlich „Autobahn“, „Radio-Aktivität“, „Trans Europa Express“, „Mensch-Maschine“, „Computerwelt“, „Electric Café“, „Tour de France“, in ihrem kühlen und doch euphorischen Minimalismus allesamt Meisterwerke, die immer wieder von neuen Generationen entdeckt wurden. Schon 1982 zitierte Hip-Hop-Pionier Afrika Bambaataa in „Planet Rock“ ausführlich Kraftwerk. Wobei, auch das ist eine Parallele zu Wagner, nie jemand dezidiert in ihre Fußstapfen trat: Wer wissen will, wie die Zukunft geklungen hat, als sie noch strahlend war, muss bis heute Kraftwerk hören.
Bei der von Hütter mit Konsequenz betriebenen Musealisierung des Kraftwerk-Kanons machte der bescheiden wirkende, wortkarge Schneider nicht mit. 2008 stieg er aus, ohne Streit. An die Öffentlichkeit trat er zuletzt 2015 für ein Projekt zum Schutz der Meere mit dem Stück „Stop Plastic Pollution“. Es klang, wie sollte es sonst sein, nach Kraftwerk. Dann zog sich Florian Schneider ins Privatleben zurück. Nun ist er an Krebs gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.