Film

Ein Familiendrama gegen die Einsamkeit

(c) Courtesy of A24
  • Drucken

Die US-Regiehoffnung Trey Edward Shults fackelt in „Waves“ ein intensives Empfindungsfeuerwerk ab: In pulsierenden Bildern (und etwas schematisch) erzählt der Film von Liebe, Tod und Versöhnung. Ab Donnerstag im Kino.

Die Kamera dreht sich im Kreis. Wie ein Sonnenkind im Freudentaumel, die Weitwinkelglubscher weit aufgesperrt, um alles, alles aufzusaugen, was rundum passiert. Im Auto: Tyler (Kelvin Harrison Jr.) und seine Freundin feiern ausgelassen ihre Liebe, die Boxen schmettern Animal Collective, draußen strahlt ein endlos weites Florida. Auf dem Footballfeld: Hier sprühen Schweiß und Ehrgeiz aus den Körpern, kein Ziel scheint unerreichbar, kein Weg zu weit. Beim Nachtschwärmen: wo das Vergnügen in Strömen fließt, als könne es nie versiegen. Junges Leben! Unbändig pulst es durch die bravouröse Eröffnungssequenz des Filmdramas „Waves“. So viel Schwung holt dieser einleitende Bilderreigen, dass man unweigerlich an die Möglichkeit einer Bruchlandung denkt.

Zu Recht. Denn „Waves“ will von den höchsten Höhen zu den tiefsten Tiefen, stürzt sich per Kopfsprung in gefährliche Gefühlsbecken, statt an der Oberfläche herumzudümpeln. Eine begrüßenswerte Tendenz im US-Kino, das so lang in stumpf-distanzierter Ironiestarre festgesteckt ist. Aber auch eine Herausforderung: Denn die Grenzen zum Kitsch sind fließend. Besonders, wenn es um große Themen geht: Liebe und Tod, Familie und Gesellschaft, Schuld und Sühne.

Der Prachtbursche hat ein Geheimnis

Die 31-jährige Regiehoffnung Trey Edward Shults ist glücklicherweise geübt darin, mit kleinen, intimen Geschichten gewichtige Fragen aufzuwerfen – und emotionale Feuerwerke abzufackeln. In Shults' Langfilmdebüt „Krisha“ (2015) wird ein Thanksgiving-Dinner zum existenziellen Druckkochtopf. Sein Zweitling, der Horror-Geheimtipp „It Comes at Night“ (2017), nutzt ein coronahaftes Isolationsszenario für eine Parabel über Fremdenangst als Gemeinschaftsgift. Mit seiner dritten Arbeit, die vergangenen November in den USA startete (und am Donnerstag auch bei uns anläuft), spannt er noch weitere Bögen, stößt fulminante Seelenbeben an. Doch deren Epizentrum bildet wieder eine Kernfamilie.

Zunächst kreist alles um Tyler, den Prachtburschen aus den Anfangsszenen. Wie angemerkt ahnt man, dass es mit seiner Unbeschwertheit nicht weit her ist. Obwohl die Risse in der Fassade sich nur zaghaft zeigen. Beim Drill in der Schule, der ein bisschen zu militaristisch wirkt. Beim scherzhaften Armdrücken mit dem Papa (stark: Sterling K. Brown), das so scherzhaft nicht ist. Schließlich in einer schlimmen Sportverletzung, die Tyler verheimlicht, um nicht als Versager zu gelten. Der strenge Bauunternehmer-Vater meint, wie alle strengen Väter vor ihm, dass er seinen Sohn nur unter Druck setzt, weil er muss – weil die Welt es nicht anders erlaubt. Und weil man sich als Afroamerikaner den „Luxus der Durchschnittlichkeit“ nicht leisten kann. Doch diese Haltung führt zu einer Katastrophe.

Sinnlichkeit an erster Stelle

Sie dient dem Film als dramaturgische Zäsur, läutet ein frisches Kapitel samt Perspektivwechsel ein. Eine gewagte Volte, die nicht richtig gelingt: Zu knapp ist Tylers Schwester Emily (Taylor Russell) zuvor präsent, zu lang braucht man, um sie als neue Hauptfigur ins Herz zu schließen. Das konzeptuelle Gambit ist immerhin interessant genug, gleichwohl an Geschlechterklischees gekoppelt: Wo sich der erste Teil schrittweise in Stimmungen der Scham und Selbstzerstörung einschraubte, folgt nun die therapeutische Entspannung. Wo Tyler sich im Gefühlstresor versteckte, sucht Emily das Verbindende, lässt sich von einem netten Schulkollegen stützen, öffnet sich dem gewissensgeplagten Paterfamilias. Aus Tränen des Zorns werden Tränen der Versöhnung.

Dass diese Tränen fließen, zählt zum ästhetischen Programm, das Sinnlichkeit an die erste Stelle setzt. Nahaufnahmen und Berührungsbilder, Blendflecken und flimmernde Farben verleihen dem zuweilen doch enorm schematischen Geschehen berückenden, impressionistischen Glanz. Somnambule Songs von Frank Ocean und Tame Impala verschmelzen mit dem Soundtrack aus der Feder von Trent Reznor und Atticus Ross zu einer wabernden, alles umhüllenden Klangwolke.

Sogar das Bildformat ist g'spürig, passt sich der Atmosphäre an: Am Tiefpunkt ist Tylers Kopf in quadratischer Kadrierung eingekerkert. „Waves“ will dem Publikum einen Weg aus dieser sozial induzierten Einsamkeit weisen. Ein löbliches Unterfangen – solang man den halb erhobenen Zeigefinger ausblenden kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2020)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.