Neues Recht und alter Glaube

Die drei Schlüsselprobleme des Islam: die nicht vorhandene Trennung von Religion und Staat, die Diskriminierung von Frauen und die Vorherrschaft des religiösen Denkens über das säkulare. „Das verfallene Haus des Islam“: Ruud Koopmans' islamkritische, nicht islamfeindliche Studie.

Schon auf den ersten Seiten des Vorworts zeigt sich die Qualität dieses Buches; diese Seiten sind mehr wert als ganze Bücher über das Thema. Ruud Koopmans, Soziologe und Professor für Migrationsforschung an der Humboldt-Universität in Berlin, bietet eine islamkritische, aber keine islamfeindliche Studie. Nicht „der“ Islam sei das Problem, sondern seine Interpretation durch Fundamentalisten, die die islamisch geprägten Länder und Gesellschaften in den vergangenen fünfzig Jahren in eine tiefe Krise gestürzt hätten.

Begonnen hat diese Krise nach Koopmans mit dem Katastrophenjahr 1979: der iranischen Revolution, der Erstürmung der Großen Moschee von Mekka durch Rebellen (die Regierung von Saudiarabien verpflichtete sich nach der Niederschlagung gegenüber der Geistlichkeit, in Zukunft islamische Regeln strenger durchzusetzen und den Wahhabismus global zu verbreiten) und dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan. Koopmans sieht den islamischen Fundamentalismus als eine Gegenbewegung zu Modernisierungstrends und einer teilweise autoritären Verwestlichung der Jahrzehnte vor 1979. Die gegenwärtige Krise der islamischen Welt habe „hauptsächlich religiöse Ursachen“, obwohl Koopmans auch andere Faktoren anerkennt, etwa den „Fluch des Öls“. Die drei Schlüsselprobleme seien die nicht vorhandene Trennung von Religion und Staat, die Diskriminierung von Frauen und die Vorherrschaft des religiösen Denkens über das weltliche beziehungsweise säkulare Denken.

Zu den zahlreichen Stärken der Arbeit gehört ihr empirischer Ansatz. Als Sozialwissenschaftler prüft Koopmans Thesen und Fragen mithilfe von Daten und Fakten, die kritisch interpretiert werden. Er verwendet die vergleichende Methode, indem er etwa die statistischen Daten zwei Ferienparadiese wie Mauritius (hinduistisch geprägt, mit starken christlichen und muslimischen Minderheiten) und die Malediven (mit dem sunnitischen Islam als Staatsreligion und dem Verbot anderer Religionen) vergleicht. Gleichsam en passant bietet Koopmans eine Fülle an historischen Details, etwa über das fatale Verbot des Buchdrucks im Osmanischen Reich 1485 oder das berüchtigte Sykes-Picot-Abkommen.

Er zeigt, dass das islamische Recht keineswegs in wirtschaftlicher Hinsicht „primitiv“ oder „veraltet“ ist. Aber das islamische Erbrecht, das das Erbe auf viele Angehörige aufteilt, wirkte sich ungünstig auf die Entfaltung einer kapitalistischen Wirtschaft aus. Ähnliches gilt für das islamische Zinsverbot. Schließlich werden im islamischen Recht nur natürliche Personen als Rechtssubjekte anerkannt, nicht jedoch öffentliche Institutionen oder privatrechtliche Organisationen – im europäischen Mittelalter hingegen gab es eine legal revolution in diesem Bereich (Harold J. Berman).

Die Studie selbst untersucht in mehreren Kapiteln das Demokratiedefizit in islamisch geprägten Ländern, deren fehlende Freiheiten, vor allem hinsichtlich der religiösen Minderheiten, der Frauen und der Homosexuellen, deren wirtschaftliche Stagnation und Probleme bei der Integration von muslimischen Migranten. Die Gesamtbilanz ist insgesamt ernüchternd bis erschütternd. Laut Amnesty International wurden beispielsweise im Iran seit 1979 etwa 5000 Menschen wegen Homosexualität hingerichtet.

Das Buch hat nur wenige Schwächen. Die Darstellung von Al-Andaluz im Mittelalter unter maurischer Herrschaft fällt etwas klischeehaft aus. Einerseits formuliert Koopmans salopp, dass „alles relativ“ sei, „auch in der Vergangenheit“, dann wendet er sich wiederum gegen den normativen Relativismus, um an einer anderen Stelle seinen „persönlichen Glauben“ an universelle Werte zu erklären. Das klingt widersprüchlich und etwas hilflos. Dabei gibt es mittlerweile genügend moralphilosophische Literatur, die einen qualifizierten normativen Universalismus begründet.

Koopmans bestätigt damit so manche meiner im Band „Islam, Aufklärung und Moderne“ dargestellten Thesen. Er wendet sich gegen essenzialistische Ansätze, die verzweifelt, aber erfolglos aus Koran und Hadithen den „eigentlichen“, „wahren“ Islam herausdestillieren möchten. Das haben etwa Ernest Renan aus dem 19. Jahrhundert, Bernard Lewis und Thilo Sarrazin gemeinsam. Damit lehnt Koopmans – zweitens – ahistorische Ansätze ab, die von einer unveränderlichen Größe namens „Islam“ (plus „Westen“, „Europa“, „Abendland“ et cetera) ausgehen und historischen Wandel ausblenden. Drittens sieht Koopmans interessante Gemeinsamkeiten zwischen radikalen Islamkritikern wie Sarrazin und islamischen Fundamentalisten. Beide postulieren einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen „Islam“ und „Westen“ und sind Literalisten, nämlich „fanatische Koranexegeten“, die oft recht dilettantisch Jahrhunderte von Exegese ignorieren und Texte auf ihren Literalsinn reduzieren. Viertens kultiviert Koopmans die Kunst des Differenzierens. Das ist besonders wichtig in Zeiten, wo die öffentliche Debatte viel zu häufig polemisch, unsachlich und polarisierend geführt wird.

Schließlich kritisiert Koopmans verbreitete Einstellungen oder intellektuelle Haltungen – Kant nannte das die „Denkart“. Muslime und Muslimas flüchten gerne in Verschwörungstheorien oder pflegen einen unsinnigen Islamophobiediskurs. Die offizielle Politik von Barack Obama bis zur deutschen Innenministerin übte sich zu oft in Beschönigungen, Pauschalurteilen und Heuchelei. Koopmans wünscht sich mehr Unterstützung für Reformbewegungen innerhalb der islamischen Religionsgemeinschaften und mehr Solidarität „mit den Opfern der islamischen Apartheid“ etwa in Saudiarabien, die Frauen, religiöse Minderheiten oder Homosexuelle zu Bürgern zweiter Klasse abstempelt.

Koopmans Buch ist eine Pflichtlektüre. Hoffentlich lesen es jene, die bereit sind, sich in einer polarisierten Debatte auf differenzierte Argumente einzulassen, jenseits von Apologie oder radikaler Islamkritik. Einfache Antworten gibt es keine, auch wenn diese unserer Bequemlichkeit im Denken „verbrauchernah“ entgegenkommen.

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