Wort der Woche

Kreislauf der Materialien

Wir Menschen sind meilenweit vom Ideal einer Kreislaufwirtschaft entfernt: Wir recyceln viel zu wenig Materialien, und wir häufen diese in unserer Infrastruktur an.

Man kann das globale Gesellschafts- und Wirtschaftssystem wie einen großen Organismus mit einem Stoffwechsel betrachten: Es gibt einen Input in Form von Materialien (Minerale, Metalle, Erdöl usw.), die durch unsere Aktivitäten verarbeitet werden und das System als Output (Abfall, Abwasser, Abgase) wieder verlassen.

In einer endlichen Welt ist so ein System nur dann langfristig überlebensfähig, wenn der Output wieder zum Input wird, wenn es also einen Kreislauf der Materialien gibt. Die Natur schafft es, die Stoffkreisläufe geschlossen zu halten (unter Zuhilfenahme der Sonnenenergie). Und wir Menschen? Fehlanzeige! Wie Forscher des Instituts für Soziale Ökologie der Boku Wien herausgefunden haben, entfernen wir uns sogar immer weiter vom Ideal einer „globalen Zirkularität“ (Kreislaufwirtschaft).

In jahrelanger akribischer Arbeit haben sie Zeitreihen für rund 150 Materialien zwischen den Jahren 1900 und 2015 erstellt. Demnach hat sich der Input in die Weltwirtschaft in diesem Zeitraum auf jährlich 95 Mrd. Tonnen verzwölffacht, der Output auf 63,8 Mrd. Tonnen verneunfacht. Der Anteil der im System zirkulierenden Materialmenge ist in dieser Zeitspanne von 43 auf 27 Prozent gesunken (Resources, Conservation & Recycling 163, 105076). Und das trotz aller Anstrengungen, die wir in Richtung Mülltrennung und Recycling unternehmen.

Die Analyse hat zudem ergeben, dass sich unser Wirtschaftssystem im vergangenen Jahrhundert von einer Durchsatz- zu einer Lagerwirtschaft entwickelt hat: Während Materialien früher durch alle Nutzungs- und Wertschöpfungsketten quasi durchgeflossen sind (und am Ende meist recycelt worden sind), häufen wir heute in unserer Infrastruktur immer größere Mengen an – etwa in Gebäuden, Straßen oder Maschinen. Aktuell werden 86 Prozent aller Ressourcen für die Erzeugung, Erhaltung und den Betrieb langlebiger Infrastrukturen und Güter benötigt. In diesen stecken aktuell fast 1000 Mrd. Tonnen Materialien – 27-mal mehr als im Jahr 1900. Jährlich kommen weitere 50 Mrd. Tonnen dazu.

Trotz der erschreckend niedrigen Zirkularität lässt sich aus diesen Zahlen auch ein optimistischer Schluss ziehen: Aus den Materialbeständen in der alternden Infrastruktur werden in den nächsten Jahrzehnten sehr große Materialmengen frei, die künftig als Sekundärrohstoffe in den Kreislauf zurückgeführt werden könnten. Allerdings nur dann, wenn wir jetzt schon die Technologien und die Kapazitäten dafür entwickeln bzw. aufbauen. ?

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2020)

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