Multidimensional Poverty Index: Armut neu vermessen

Armut vermessen
Armut vermessen(c) AP (Mahesh Kumar A.)
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Ein neues Messverfahren zeigt: Armut ist indisch. Mehr als die Hälfte der 1,7 Milliarden Armen weltweit lebt auf dem Subkontinent - nur ein Viertel in Afrika. Und: Einkommen allein ist kein sicherer Schutz vor Armut.

Was ist Armut? Wann gilt ein Mensch als arm und wie viele arme Menschen leben demnach auf dieser Welt? Früher war die Antwort auf diese Frage einfach: Arm war, wer nicht ausreichend Geld hatte, um davon zu leben. So zählt etwa die Weltbank seit zwei Jahrzehnten für ihren „World Development Report“ all jene Menschen ab, die mit weniger als dem berühmten Dollar am Tag (mittlerweile liegt die Grenze bei kaufkraftbereinigten 1,25 US-Dollar, Anm.) auskommen müssen. Nach dieser Definition wäre derzeit jeder vierte Mensch in einem Entwicklungsland arm.

Die Dicke der Brieftasche zu messen, reicht allerdings nicht aus, um die Frage nach der Armut zufriedenstellend zu beantworten, sind sich Entwicklungsökonomen einig. Zwar spielt das Einkommen eine gewisse Rolle, ermöglicht es den Menschen doch, sich ein Stück Wohlstand zu erkaufen. Ein Garant für bessere Gesundheit oder ausreichende Ernährung ist es deswegen aber noch lange nicht.

(c) Die Presse / NK

Einen breiteren Ansatz bietet der sogenannte „Human Poverty Index“, mit dem die Vereinten Nationen (UN) seit mittlerweile 13 Jahren versuchen, die weltweite Armut statistisch zu erfassen. Hier werden Lebensjahre gezählt, Bildungsstand und Lebensstandard in einzelnen Staaten erhoben. Mit überschaubarem Erfolg, sagen Kritiker.

Ein neues Maßband. Im kommenden „Human Development Report“, den die Vereinten Nationen im Oktober veröffentlichen werden, soll daher erstmals eine neue Messlatte zum Einsatz kommen: der Multidimensional Poverty Index (MPI). Statt Größen wie die Gesundheitsversorgung oder die Einkommensentwicklung in einzelnen Ländern aus der Vogelperspektive zu betrachten, versuchen die Wissenschaftler an der Universität von Oxford, wo der MPI entwickelt wurde, das genaue Ausmaß der Armut in den einzelnen Haushalten sichtbar zu machen.

Kritik der Weltbank. Konkret wollen die Forscher erheben, wie vielen Haushalten es in einem Land an einer gewissen Basisversorgung mangelt. Dabei geht es einerseits um Fragen wie: Gibt es saubere Toiletten? Liegt die nächste Wasserstelle weiter als 30 Gehminuten entfernt? Muss die Familie ohne Elektrizität auskommen? Andererseits sollen anhand von Kriterien wie Kindersterblichkeit und Anzahl der Kinder in Ausbildung der Bildungsstand und die Gesundheitsversorgung der Menschen erfasst werden. Dieser breite Ansatz sei wichtig, „weil in Ländern mit großer sozialer Ungleichheit oft ein hoher durchschnittlicher Wohlstand erreicht wird. Eine Elite häuft unglaublichen Reichtum an, was jedoch die Tatsache versteckt, dass ein Großteil der Menschen arm ist – etwa in den meisten Öl-Staaten.“, sagt Sabina Alkire, die den Index mitentwickelt hat. Nach der neuen Methode gelten Familien dann als arm, wenn sie bei mehr als 30 Prozent der zehn untersuchten Kriterien benachteiligt sind.

Weltbank-Ökonom Martin Ravallion übt hingegen heftige Kritik am MPI. Alle Kriterien würden gleich gewichtet, klagt er im Internet-Blog von Oxfam. Wer könne aber davon ausgehen, „dass der Tod eines Kindes gleichzusetzen sei (...) mit der Tatsache, dass man kein Radio oder kein Fahrrad besitzt?“


400 Millionen mehr in Armut. Die Kritik kommt nicht überraschend, machen die neuen Ergebnisse aus Oxford doch viele Annahmen ihrer Vorgänger scheinbar obsolet. So zählt der MPI heute in 104 untersuchten Ländern 1,7 Milliarden Menschen, die in Armut leben. Das sind um 400 Millionen mehr als nach der derzeitigen Kalkulation der Vereinten Nationen.

Bisherige Standards zur Messung der Armut geben offenbar nur einen kleinen Teil des Bildes wieder, die Messung von Einkommen allein hat mit der Zahl der Menschen, die Armut erleben, anscheinend nur wenig zu tun.

Ein Beispiel dafür ist Indien. Es stimmt, der Subkontinent hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Wirtschaftsmacht entwickelt, die bereits wieder Wachstumsraten über sieben Prozent erreicht. In Mumbai und Delhi ist die neue Mittelschicht, jene 300 Millionen Inder, die stark vom Aufschwung profitiert haben, gut sichtbar. Bis 2025 soll sie auf 583 Millionen Menschen anschwellen, schätzt die Unternehmensberatung McKinsey.

Dennoch lebt fast die Hälfte aller Menschen weltweit, die nach der neuen Methode zu den Armen gezählt werden, in Indien. Im Land ist jeder Zweite arm, ein Fünftel mehr als bisher angenommen. „Nur für 20 Prozent der Inder haben sich die Lebensbedingungen seit 1990 verbessert“, sagt Nalini Rajan, Leiterin des Asian College of Journalism in Chennai. Am unteren Ende ist davon wenig angekommen, wie eine frühere Studie aus Oxford zeigt. Trotz der starken Wirtschaftsentwicklung verringerte sich der Anteil der unterernährten Kinder im Land von 1998/99 auf 2005/06 nur von 47 auf 46 Prozent.

Die acht ärmsten indischen Bundesstaaten beherbergen 421 Millionen arme Menschen: mehr als die 26 ärmsten afrikanischen Staaten zusammen.

Arm trotz Einkommen. In Summe lebt nur knapp über ein Viertel aller Armen in Afrika. Die ärmsten Länder finden sich dennoch weiterhin auf dem schwarzen Kontinent. Spitzenreiter ist Niger, wo 93 Prozent der Bevölkerung betroffen sind, gefolgt von Äthiopien und Mali. Auch das stimmt mit bisherigen Berechnungen, etwa nach der „Ein-Dollar-Methode“ der Weltbank, nicht überein (siehe Grafik).

Während nur zwei Drittel der Bevölkerung in Niger weniger als 1,25 Dollar am Tag zur Verfügung haben, gelten 93 Prozent nach der MPI-Methode als arm. Das Gegenteil gilt für Tansania. Dort sind fast neunzig Prozent der Bevölkerung „einkommensarm“. Dennoch schafft es das Land offenbar, zumindest ein Drittel seiner Einwohner ausreichend mit Bildung, Häusern und Nahrung zu versorgen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2010)

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