Lässt sich Religion mit Aufklärung vermählen? Die „Hochzeit Marias“ von Michael Pacher.
Kulturelle Evolution

Wie die Kirche westliche Werte schuf - ohne es zu wollen

Dass der Erfolg des Westens etwas mit unserem Individualismus zu tun hat, liegt nahe. Weit weniger, dass wir beides den Heiratsregeln der katholischen Kirche verdanken. Der Anthropologe Joseph Henrich weist es nach.

England, um das Jahr 600. Der Missionar Augustin bekehrt den König von Kent, sein Team rettet die Seelen der Untertanen und dringt weiter in heidnisches Terrain vor. Aber etwas bereitet ihm Kopfzerbrechen: Die Angelsachsen wollen sich nicht verbieten lassen, sich innerhalb ihrer Sippen zu paaren. Augustin schreibt Briefe an den Papst: Wie genau sind unsere Regeln zu nehmen? Sehr genau, lautet die Antwort aus Rom: Cousin und Cousine dürfen nicht heiraten, auch die Stiefschwester oder die verwitwete Schwägerin sind tabu.

Die Verbote werden strenger, im elften Jahrhundert haben sie sich zum sechsten Verwandtschaftsgrad ausgedehnt, zurück zu 128 Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßeltern. Dispens ist möglich, kostet aber, nur der Adel kann ihn sich leisten. Anderen drohen Exkommunikation und Höllenqualen. Das wirkt, in allen missionierten Gebieten: Jedes Jahrhundert unter katholischer Ägide senkt die Zahl an Vetternehen um 60 Prozent. Und natürlich darf ein Mann nur noch eine Frau haben. Dafür können junge Menschen nicht mehr so einfach zwangsverheiratet werden: Die Formel „Ich will“ vor dem Traualtar sichert ihnen ein Vetorecht. Und jeder kann nun an Familienfremde vererben, auch an Institutionen – allen voran der Kirche, um sich so einen Platz im Himmel zu sichern. Mit dem Erfolg, dass um 1500 in Deutschland der Kirche die Hälfte des gesamten Bodens gehört.

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