Rauer Gegenwind weht der Kommissionspräsidentin nach ihrer Rede zur Lage der Union aus dem Europaparlament entgegen.
Was möchte Ursula von der Leyen in den kommenden zwölf Monaten als Präsidentin der Europäischen Kommission erreichen? In ihrer erster „Rede zur Lage der Union“ vor dem aufgrund der seuchenpolitischen Maßnahmen schütter besetzten Europaparlament zählte sie ihre Vorhaben auf: von der Schaffung einer neuen EU-Agentur für biomedizinische Forschung über die Stärkung von Digitalisierung und die Verschärfung der Klimaschutzziele bis hin zum Vorschlag eines EU-Magnitsky Acts“, also eines EU-Gesetzes, mit dem Menschenrechtsverstöße weltweit geahndet würden.
Doch in ihrer mehr als einstündigen Rede blieb von der Leyen vage – und die heißesten Eisen, nämlich Asyl und Migration sowie den Angriff auf die europäischen Grundwerte durch die polnischen und ungarischen Regierungen, griff sie bis auf Allgemeinplätze gar nicht an. Die Folge: fast alle ihrer Prioritäten ernteten überraschend scharfe Kritik von Abgeordneten jener Fraktionen, mit deren Stimmen sie gewählt wurde. Angesichts des Unwillens der nationalen Regierungen, lange verschobene Kompromisse zu erzielen, ist der Unmut im Parlament ein weiteres schlechtes Omen für die Kommission unter von der Leyen.
1. “Next Generation EU“ und der Weg aus der Corona-Rezession
Von der Leyen bekräftigte einmal mehr, dass die nationalen Programme für den 750 Milliarden Euro umfassenden EU-Wiederaufbaufonds (er trägt den Namen „Next Generation EU“) „uns nicht nur aus der Krise helfen, sondern auch dazu beitragen soll, Europa mit Schwung in die Welt von morgen zu bringen.“ Doch wie genau sie dafür sorgen will, dass nicht bloß neues Geld altem nachgeschmissen und damit wenig nachhaltige Wirtschaftszweige reanimiert werden, ließ sie offen. „Zur sozialen Krise, die der EU bevorsteht, hat von der Leyen geschwiegen“, kritisierte Andreas Schieder, Leiter der SPÖ-Delegation. Von der Leyen kündigte an, dass die Kommission einen Gesetzesvorschlag machen werde, um in allen Mitgliedstaaten Mindestlöhne einzuführen: via Gesetz, oder, wie sie es bevorzugt, auf Basis von Kollektivverträgen. Eine schnell wirksame Lösung für die sozialen Folgen der Krise ist das nicht. „Viel Pathos, wenig Substanz“, unkte Parlamentsvizepräsidentin Nicola Beer von der FDP. „Mit viel PR hat von der Leyen eine Sachstandsbeschreibung geliefert. Das Corona-Kapitel bleibt etwa völlig frei von Selbstkritik, keine Idee, wie der Vertrauensverlust der Bürger in die EU wiederaufgebaut werden soll.“