SPÖ

Wie rot ist Wien wirklich?

Lea Six von der kritischen Sektion 8 vor dem „Flagship“ des Roten Wien, dem Karl-Marx-Hof. (c) Caio Kauffmann
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Von der Wiege bis zur Bahre versorgt die SPÖ die Wiener. Dabei durchdringt die sozialdemokratische Politik die gesamte Stadt. Das hat Auswirkungen für jeden, der in Wien lebt.

Wie rot ist Wien? Wer sich auf der Suche nach Antworten auf diese Frage begibt, landet unweigerlich in der Heiligenstädter Straße 82–92. Dort, im bürgerlichen Döbling, thront der längste zusammenhängende soziale Wohnbau der Welt: der Karl-Marx-Hof. Seit 1930 ist er das sichtbarste Symbol des Roten Wien. Gebaut, um menschenwürdige Wohnungen für Arbeiter zu schaffen, war er ein Symbol des neue Selbstverständnisses der Arbeiterschaft.

Hier, vor den mächtigen Bögen des Hofs, treffen wir Lea Six. Sie leitete die Sektion 8, die als sozialdemokratischer Thinktank gilt bzw. rote Querdenker vereint, die sich gern gegen die Parteilinie stellen und Fehlentwicklungen in der SPÖ kritisieren. „Wir bezeichnen uns als sozialdemokratische NGO“, formuliert es Six.

»Der soziale Wohnbau ist das sichtbarste Zeichen der langen SPÖ-Regentschaft.«

Im Schatten der Bäume in dem kleinen Park vor dem Karl-Marx-Hof führt eine Bewohnerin ihren schwarzen Rauhaardackel spazieren. Der Hund jault, der Blick von Six fällt auf den roten Bau dahinter. „Der Karl-Marx-Hof ist im sozialen Bereich ein Flagship-Produkt der Sozialdemokratie.“ So nennt man in der jungen SPÖ-Generation ein Vorzeigeprojekt. „Er ist einer der bekanntesten und schönsten Gemeindebauten. Er steht symbolhaft für den sozialen Wohnbau, der in Wien wahnsinnig präsent ist“, meint Six bewundernd. Rund 60 Prozent der Wiener würden im sozialen oder sozial geförderten Wohnbau leben: „Das drückt auch die Mieten auf dem privaten Wohnungsmarkt.“

Der Karl-Mar-Hof, der von außen wie eine Festung wirkt, ist für die SPÖ nicht nur wegen der Manifestierung des sozialen Wohnbaus, sondern auch durch die Ereignisse des Bürgerkriegs 1934 ideologisch aufgeladen: Arbeiterschaft und Schutzbund lieferten sich auf dem Gelände des Karl-Marx-Hofs heftige Kämpfe gegen Militär, Gendarmerie und Heimwehr. „Es ist ein symbolhafter Ort“, meint Six.

Was sich nicht verändert hat. Rund 90 Jahre nach der Errichtung des Karl-Marx-Hofs hat sich viel verändert, aber einiges ist gleich geblieben: Der soziale Wohnbau ist ein Kern sozialdemokratischer Politik in Wien, das seit dem Zweiten Weltkrieg von der SPÖ regiert wird. Rund 220.000 Gemeindewohnungen zeugen heute von diesem Kern, der die Stadt zu einem der größten Wohnungsbesitzer weltweit gemacht hat. Und diese Gemeindebauten gelten bei Wahlen als Rückgrat der Wiener SPÖ, weshalb sich die Partei sehr wohlwollend um ihre dortige Wählerschaft kümmert. Umso intensiver, seitdem die FPÖ es geschafft hat, mit radikalen migrationskritischen Wahlkämpfen große Erfolge in den roten Hochburgen zu feiern, und dort teilweise stärkste Partei wurde. Doch nach den blauen Skandalen dürfte die FPÖ auch in Gemeindbauten massive Verluste hinnehmen müssen.

»Von der Wiege bis zur Bahre werden die Wiener von den städtischen Firmen versorgt.«

Michael Ludwig, seit 2018 Bürgermeister, führt derweil den Weg von Michael Häupl weiter: Von der Wiege bis zur Bahre sollen die Wiener versorgt werden. Allerdings nur von städtischen Betrieben. Private Konkurrenz wird entweder nicht zugelassen, vom städtischen Monopolisten an den Rand gedrängt oder aufgekauft. Ein Beispiel dafür ist die städtische Bestattung. Rund 18 Jahre nach der Marktliberalisierung dominiert sie weiterhin ungefährdet den Markt in der Bundeshauptstadt.

„Wien ist durch und durch geprägt durch die lange Zeit, die Wien rot regiert wird“, meint Six. Das habe gute und auch weniger gute Seiten. Der soziale Wohnbau, der öffentliche Raum, die Donauinsel nennt die junge Rote spontan als Pluspunkt: „In Kärnten sind alle Seen verbaut und öffentlich kaum zugängig. In Wien kann man mit der U-Bahn auf die Donauinsel fahren.“ Unzufrieden ist Six im Bereich der Demokratie: „Da sieht es nicht so gut aus. Bei der Wien-Wahl dürfen viele Menschen nicht wählen, obwohl sie hier leben, arbeiten und ihre Kinder hier in die Schule gehen.“ Damit spricht sie das Wahlrecht für Drittstaatsangehörige an, das Häupl einst eingeführt, der Verfassungsgerichtshof aber postwendend aufgehoben hat.

Für die Bürger hat das Rote Wien auch eine andere unangenehme Seite. Jene, die zeigt, dass die Sozialdemokraten die Stadt gern mit einer Filiale der Partei verwechselt – bei Postenbesetzungen ebenso wie bei Auftragsvergaben. In der Vergangenheit gerieten immer wieder Aufträge der Stadt an SPÖ-nahe Firmen in den Fokus. Beispielsweise im Medienbereich, in dem nebenbei gern und üppig Inserate an Boulevardmedien vergeben werden, „die sich an keinen Ehrenkodex halten“, kritisiert Six. Von diesen Medien wird die SPÖ Wien (wenig überraschend) sehr sanft angefasst bzw. im Wahlkampf teilweise unterstützt. Die Sektion 8 wollte das stoppen. Ihr Antrag, Inserate nur an Medien zu vergeben, die den Ehrenkodex und Qualitätskriterien einhalten, wurde bei einem der jüngsten Parteitage zu Grabe getragen. Dazu kommt, dass das Rote Wien die riesige Medienorgel der Stadt bespielt. Und dort werden (vor allem vor Wahlen) SPÖ-Politiker förmlich bejubelt – was schlussendlich der Steuerzahler bezahlt. Die Opposition muss hier zähneknirschend zusehen, wie sie von diesen Stadt-Wien-Medien großteils völlig ignoriert wird – sie kommen mit ihren Botschaften (und Kritik) also nicht durch.

»Die SPÖ Wien besitzt den mächtigsten politischen Firmenverband in Österreich.«

Wirtschaftsmacht. Eine Seite, über die die SPÖ nicht so gern spricht, ist die Wirtschaftsmacht, die in den Händen der Bürgermeisterpartei liegt. Und das zweifach. Einerseits leitet die SPÖ selbst einen Wirtschaftskonzern, andererseits hat sie über die Beteiligungen der Stadt einen enormen Einfluss auch auf die Privatwirtschaft. Denn es gibt kaum eine Firma, die nicht Geschäfte mit der Stadt Wien machen möchte.

Zu dem SPÖ-Konzern: Hinter dem Begriff „Verband der Wiener Arbeiterheime“ verbirgt sich die mächtigste politische Unternehmensholding Österreichs. Verlage, Bauträger, Agenturen etc. gehören dazu. Bereits im Jahr 2010 recherchierte dazu „Profil“: Einer der wichtigsten Kunden des roten Mischkonzerns ist pikanterweise die Gemeinde Wien. Auch wurde damals aufgezeigt, dass Betriebe der Stadt Wien mit öffentlichen Mitteln Parteiveranstaltungen gesponsort hatten.

Dazu kommt noch der Bereich der ausgelagerten städtischen Betriebe, die in der Wien-Holding oder in den Wiener Stadtwerken zusammengefasst sind. Die Wiener SPÖ dirigiert über die Stadt Wien zusätzlich eine weitere Wirtschaftsmacht – mit allen Konsequenzen, wenn Politik direkt auf die Wirtschaft zugreift. Das Fiasko um das Krankenhaus Nord, das nun unter Klinik Floridsdorf firmiert, ist ein Beispiel. Hier wurden Hunderte Millionen durch Misswirtschaft versenkt. Oder die Neugestaltung des Prater-Vorplatzes, die am Ende nicht nur architektonisch fragwürdig ausfiel, sondern auch ein Millionengrab mit einer Verdoppelung der Bau- und Errichtungskosten von 30 auf 60 Millionen Euro war. Es gibt eine lange Liste derartiger Beispiele – auch der Wiener Stadtrechnungshof zeigt regelmäßig derartige Fälle auf.
Der Grund: In solchen Konstellationen zählt die Parteizugehörigkeit oft mehr als die berufliche Qualifikation – ebenso wie Ideologie oft wichtiger ist als wirtschaftliche Grundsätze. Auch das ist das Rote Wien.

Mit ihrer Wirtschaftsmacht sorgt die SPÖ dafür, dass es ihren wichtigsten Wählergruppen an nichts mangelt. Das sind neben den Gemeindebau-Bewohnern geschätzte 80.000 Beamte und Angestellte des Magistrats bzw. von stadteigenen Firmen. So wurde 2005 die Pensionsreform des Bundes nicht nachvollzogen, sondern nur in homöopathischen Dosen umgesetzt; was Wiens Steuerzahler Hunderte Millionen Euro kostet.

Die SPÖ-Philosophie des Umsorgens hat sich verfangen: Vor allem in roten Hochburgen wie Gemeindebauten haben sich die Menschen daran gewöhnt, dass sich die Stadt um alles kümmert. Entsprechend empfindlich reagiert diese Klientel auf Veränderungen. Beispielsweise bei der Öffnung des Gemeindebaus für Migranten.

Politisch führt die SPÖ in Wien 249 Sektionen, sie hat 407 Bezirksräte und 10.000 Aktivisten, „die jederzeit für Aktionen einsatzbereit sind“, heißt es in der Löwelstraße, dem Sitz der Partei: „Und diese Zahl ist im Steigen“, betont man. Die Zahl der Mitglieder der Wiener SPÖ will man dagegen nicht bekannt geben. Aber Michael Häupls damaliger Parteimanager, Harry Kopietz, sprach immer „von der wahrscheinlich größten Stadtpartei der Welt“. Schätzungen gehen von 40.000 bis 60.000 Mitgliedern aus.

Eine politische Trennlinie zwischen Partei und Stadt wurde nie gezogen, im Gegenteil: Die SPÖ Wien verstand es in der Ära von Michael Häupl blendend, Angriffe der Opposition auf die SPÖ als Angriff auf die Stadt darzustellen. Das diskreditierte nicht nur die Opposition bei den Wählern, die SPÖ konnte sich gleichzeitig als Verteidigerin der Wiener inszenieren. Diese Strategie der Vermischung von Stadt und Partei soll einst Häupls damaliger Parteimanager, Harry Kopietz, erfunden haben, sie funktionierte in Zeiten einer absoluten SPÖ-Mehrheit äußerst gut.

Die roten Kernfelder. Wie rot Wien ist, zeigt sich an den Kernfeldern der Sozialdemokratie. Neben dem Thema soziales Wohnen gehört die medizinische Versorgung dazu. Das Wiener Gesundheitssystem galt deshalb jahrzehntelang als Vorzeigemodel. Allerdings wurde dieser Ruf gerade in den vergangenen Jahren durch politische Fehlentscheidungen und Managementfehler ramponiert – der aktuelle Gesundheitsstadtrat, Peter Hacker, hat nun die undankbare Aufgabe, den Scherbenhaufen aufzuräumen, wie es manche in der Sozialdemokratie formulieren.

In der Coronakrise funktioniert dieses System für seinen Zustand allerdings überraschend gut. Aber baufällige Spitäler, Personalmangel und Missmanagement (z. B. Krankenhaus Nord) ließen das Gesundheitssystem immer öfter ins Zentrum der Kritik geraten. Es ist derzeit die größte Baustelle des Roten Wien. Und eine Baustelle, bei der die Wiener sehr empfindlich sind.

Die Handschrift der SPÖ hat auch einen anderen Aspekt: Innovationskraft war lange Jahre das Markenzeichen der Wiener SPÖ. In historischen Dimensionen beispielsweise mit dem Bau der Donauinsel, gegen den es massiven Widerstand der Opposition gab. Bei der jährlichen SPÖ-Klubklausur, die lange Zeit im burgenländischen Rust stattfand, wurden Leuchtturmprojekte für Wien präsentiert: der Gratiskindergarten, das (später aus dem Ruder gelaufene) Milliardenprojekt Krankenhaus Nord, Gratisnachhilfe für Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen, die Wiederaufnahme der Errichtung von Gemeindebauten, der Bau der Linie U5 usw.

»„Was ist an Wien nicht sozialdemokratisch? Da muss ich erst nachdenken.“«

Das Rote Wien war daneben ein gesellschaftspolitischer Motor. Die SPÖ-Stadtregierung stellte sich vehement gegen die Diskriminierung von Minderheiten und gegen gesellschaftliche Dogmen. „Die Sozialdemokratie steht für Inklusion und Emanzipation“, formuliert es Six. Daher sieht die Partei den Kampf gegen die, vornehm formuliert, ausländerkritische Politik der FPÖ als unerschütterlichen Auftrag. Michael Häupl hat es einst so formuliert: Die Wiener SPÖ sei der Antipode der Freiheitlichen. Nicht nur einmal hat er die FPÖ wörtlich als „Hetzer“ bezeichnet. Selbst in Sachfragen verweigerte Häupl eine Zusammenarbeit mit den Blauen. Mit der gesellschaftspolitisch offenen Haltung wurden Migranten (das politische Angriffsziel der FPÖ) durch Vereine und Fördermaßnahmen unterstützt – ebenso wie Menschen mit anderer sexueller Orientierung. Dass der Life Ball in Wien so groß geworden ist, ist kein Zufall. Die Stadt Wien gehörte immer zu den größten Sponsoren, auf dem Ball selbst sonnten sich SPÖ-Politikerinnen und Politiker gern im Glanz der angereisten Prominenz wie Elton John oder Bill Clinton.

Brot und Spiele. Typisch rot an Wien ist die „Brot-und-Spiele-Politik“, die vorrangig der frühere SPÖ-Wien-Parteimanager Harry Kopietz und Ex-Vizebürgermeisterin Grete Laska begründet haben. Kopietz hat beispielsweise ein kleines Fest erfunden, das heute (wenn auch nicht heuer) zu den größten Freiluft-Events in Europa zählt – das Donauinselfest, das freien Eintritt bietet. Wobei gesagt werden muss: Ein finanziell großer Anteil für das SPÖ-Fest kommt von der Stadt Wien und wieneigenen Firmen.

Für die Brot-und-Spiele-Politik wurde der Rathausplatz zur Eventbühne mit Filmfestival, Wien-Wochen, Steirerdorf, Sommerkino usw. – immer bei freiem Eintritt. Denn der kostenlose bzw. finanziell sozial verträgliche Zugang zu Veranstaltungen oder Dienstleistungen der Stadt ist ein ideologisches Kernthema des Roten Wien – seien es städtische Bäder, Gratiskindergarten oder die Ankündigung der beitragsfreien Ganztagsschule im heurigen Sommer. Diese Segnungen werden naturgemäß nicht von der SPÖ, sondern vom Wiener Steuerzahler finanziert.

Seit dem Zweiten Weltkrieg regiert die SPÖ in Wien, ab 11. Oktober werden (laut Umfragen) weitere fünf Jahre folgen. In der langen Zeit ihrer Regentschaft hat die SPÖ alle Bereiche der Stadt durchdrungen. Lea Six bringt das auf den Punkt: „Was an Wien nicht sozialdemokratisch ist? Da muss ich erst einmal nachdenken.“

Fakten

Seit 1945 regiert die SPÖ ohne Unterbrechung die Bundeshauptstadt. Die meiste Zeit mit absoluter Mehrheit.

249 Sektionen umfasst die SPÖ Wien.

407 Bezirksräte gehören zur Bürgermeisterpartei.

10.000 Aktivisten sind für Aktionen der Partei jederzeit mobilisierbar.

Unbekannt ist die Zahl der Parteimitglieder, die SPÖ gibt das nicht bekannt. Schätzungen sprechen von 40.000 bis 60.000 Parteimitgliedern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2020)

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