Jüdisches Museum

Wie der Wiener Apfelstrudel nach Shanghai kam

Hans Jabloner (3. von links) und Fritz Strehlen (4. von links) vor ihrem Lokal "Fiaker" in Shanghai, ca. 1939.
Hans Jabloner (3. von links) und Fritz Strehlen (4. von links) vor ihrem Lokal "Fiaker" in Shanghai, ca. 1939.Jüdisches Museum/Sammlung Jabloner
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Die Ausstellung „Die Wiener in China“ zeigt, wie sich emigrierte Juden in Shanghai einrichteten. Ein zentraler Teil der Wiener Subkultur war die Kaffeehausszene.

Darüber, was Heimat konstituiert, lässt sich trefflich diskutieren. Ist es in erster Linie die Sprache? Vermisst man die Landschaft, eine konkrete Kunstform oder die urbane Architektur? Ist es eine spezielle Mentalität oder schlicht die Leibspeise, deren Verlust am tiefsten schmerzt? In der von Danielle Spera und Daniela Pscheiden kuratierten Ausstellung „Die Wiener in China – Little Vienna in Shanghai“ nehmen die Zeugnisse einer lebhaften Gastrokultur großen Raum ein. Obwohl die wienerischen Jüdinnen und Juden nur etwa ein Fünftel der deutschsprachigen Exilanten in Shanghai ausmachten, beherrschten sie Gastronomie und Nachtclubszene. Das Kulinarische spielte eine Hauptrolle beim Versuch, in der exotischen Fremde eine Art neue Heimat zu errichten. Die Belastungen waren mannigfaltig. Viele mussten ihren Beruf wechseln. Dazu kamen das subtropische Klima, die schlechten hygienischen Verhältnisse und der Krieg zwischen China und Japan.

Nach einer ersten Phase der Orientierung in diesem Chaos reagierten die Geflüchteten mit vorsichtiger Lebenszugewandtheit. Viel hatten sie nicht retten können, aber das vielleicht elementarste Stück Heimat trugen sie mit sich: in ihrem Mund. Der Apparat der frühen Welterschließung, der geschmacklichen Wunder und Schrecknisse, der wurde jetzt zum Instrument des Trosts. In den hurtig aus dem Boden gestampften Kaffeehäusern und Konditoreien stabilisierten Süßspeisen der böhmischen und aschkenasischen Küche die strapazierten Nerven der Flüchtlinge. Bald delektierten sich auch Einheimische daran. Dazu kamen weniger geschätzte Gäste: in China ansässige Deutsche, die Hitler huldigten. Ungezwungen besuchten auch sie die jüdischen Labstellen. Der Gusto nach Apfelstrudel, Buchteln und Topfengolatschen korrumpierte kurz den Rassenwahn.

Riesenrad und Stephansdom

In einem reizenden Film erzählt die fast 100-jährige Jutta Jabloner im Interview mit Danielle Spera lebhaft, mit welchem Coup ihrem Mann Hans, der in Wien als Sekretär von Karl Farkas gewirkt hatte, die Finanzierung der gemeinsamen Lokalität „Fiaker“ glückte. Er wickelte einen von seinem Kompagnon gebackenen Apfelstrudel in ein Tuch und stürmte damit in die nächste Bank. Kein Security konnte ihn auf seinem Weg zum Direktor aufhalten. Vor diesem breitete er den nach Zimt duftenden Schatz aus, und dieser verfehlte seine Wirkung nicht. Der Kredit war genehmigt, noch ehe der Strudel ausgekühlt war. Das Fiaker, von dessen Wänden Bilder von Riesenrad und Stephansdom prangten, war bald beliebter Treffpunkt der Shanghaier Society, erfolgreich warb es mit der „besten Sachertorte außerhalb von Wien“.

Operettenarien auf Japanisch

Bescheidener ging es das Ehepaar Brodmann an. Leopold, eigentlich Schauspieler, und seine Frau, Franziska, eröffneten das Wiener Stüberl, das bald für seine Apfel- und Topfenstrudel gerühmt wurde. Sie warben mit „Wiener Kaffee, Schlagobers, Bester Kuchen“. Anders als Jabloner war Brodmann auch in Shanghai in der Lage, seiner ursprünglichen Profession nachzugehen. Er sang Operettenarien auf Japanisch. Ein vielleicht noch ärgerer Culture-Clash war es, wenn „Piefke“ und „Weaner“ kooperierten. Der Berliner Kabarettist Herbert Zernik und der Wiener Pianist Peppi Paunzen warben mit einem Programm namens „Berliner Humor und Wiener Stimmung“. Die Unterscheidungsmerkmale waren dabei ähnlich wie heute. „Wenn Gäste ins Café Roy kamen und eine Tasse Kaffee (mit Betonung der ersten Silbe) bestellten, waren sie Deutsche“, erklärt ein Cafétier: „Sie bekamen zwei Stück Zucker. Aber wenn die Kunden Kaffee (mit Betonung auf der zweiten Silbe) verlangten, bekamen sie drei Stück Zucker, denn sie waren Weaner.“

In den zehn Jahren seiner Existenz entstand im „Little Vienna“ eine Vielzahl von Lokalen mit an die Heimat erinnernden Namen wie Delikat, Zum Würstl-Tenor und Das Weiße Rössl. Die aufblühende Wiener Subkultur umfasste bald auch Geschäfte, Kabaretts, Theater- und Musikaufführungen. Sogar einen Heurigen namens „The Palm-Garden“. „Ein Stück Grinzing nach Shanghai gebracht! Höchster Heuriger im festlich beleuchteten Palmgarten“ versprach ein Plakat.

Ab 1947 zerbröckelte Little Vienna. Manche emigrierten in die USA, wie der spätere Wiener Philosophieprofessor Kurt Rudolf Fischer, der kurioserweise auch Boxmeister von Shanghai war. Namensvetter Kurt Fischer zog es zurück nach Wien. Warum? „Wenn man ein grantiger Wiener ist, macht es einen nervös, nur mit freundlichen Menschen zusammen zu sein.“ Die Wiener Shanghai-Rückkehrer trafen sich im Café Altes Rathaus. Dessen Patron war der Hans Jabloner vom Shanghaier Fiaker. Im geselligen Beisammensein realisierten sie, dass sie jetzt eigentlich zweifach Entwurzelte waren. Ihre Nostalgie war eine zartbittere.

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