Im Kino

„Never Rarely Sometimes Always“: Vom Mädchen, das auszog, um abzutreiben

Die Willenskraft sieht man der unscheinbaren Autumn (gespielt von der Musikerin Sidney Flanigan) nicht an. Sie will das Kind nicht – und sie will ihren Eltern nichts davon erzählen.
Die Willenskraft sieht man der unscheinbaren Autumn (gespielt von der Musikerin Sidney Flanigan) nicht an. Sie will das Kind nicht – und sie will ihren Eltern nichts davon erzählen.(c) Focus Features
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Eliza Hittmans viel diskutierter Film „Never Rarely Sometimes Always“ handelt von einer 17-Jährigen, die ausbüxt, um in New York ihre ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. Er ist ästhetisch sanft – aber politisch hart.

Der Test lügt nicht: Positiv heißt positiv. Um Corona geht es nicht. Dafür um einen anderen körperlichen Zustand, mit dem Autumn im Moment überhaupt nichts anfangen kann: Sie ist schwanger. Und orientierungslos. Entgeistert blättert sie in Beratungsbroschüren, findet dort keine Antworten. Dabei kann es nicht bleiben. Also heizt die Siebzehnjährige eine Stecknadel am Gasherd auf. Stellt sich vor den Spiegel. Und sticht sich ein Loch in den Nasenflügel. Dann sehen wir, wie sie erhobenen Hauptes zur Arbeit marschiert. Ein Piercing prangt als Talisman in ihrem Antlitz: Autumn bietet dem Leben die Stirn.

Man sieht ihr die Willenskraft nicht an. Die Hauptfigur von Eliza Hittmans „Never Rarely Sometimes Always“ wirkt erst wie ein armes Hascherl: schüchterne Stimme, geducktes Auftreten, Schlabberlook. Beim schulischen Talenteabend steht sie allein auf der Bühne und verwandelt einen Hit der Soul-Pop-Gruppe The Exciters in ein bitteres Lamento: „He makes me do things I don't wanna do / He makes me say things I don't wanna say.“ Doch damit ist Schluss. Nach dem Konzert schüttet sie einem präpotenten Zwischenrufer („Schlampe!“) ein Glas Wasser ins Gesicht. Ist er der Vater? Egal.

Denn Autumn hat nicht vor, das Kind zu kriegen. Ihren Eltern verrät sie nichts (die Mutter wirkt abwesend, Papa depressiv). Ein Selbstversuch mit Pillen und Bauchboxen führt nur zu Brechreiz. Andere Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs (ohne Einbezug der Familie) bietet ihr Heimatstaat Pennsylvania nicht. Eher im Gegenteil. Nach dem ersten Ultraschall bittet eine nette alte Dame, noch ein bisschen dazubleiben. Und zeigt der werdenden Mama ein Video. Ein Mann „demaskiert“ darin eine „schreckliche Wahrheit“: Abort sei Mord. Autumn ist nicht überzeugt. Und trifft eine Entscheidung. Heimlich, still und fest entschlossen macht sie sich mit ihrer gleichaltrigen Arbeitskollegin Skylar (Talia Ryder) auf den Weg nach New York, wo Abtreibungen auch ohne elterliche Aufsicht möglich sind.

Ein Akt der Subversion, den Hittman entsprechend subtil in Szene setzt. Hier werden keine großen Reden geschwungen, keine Ermächtigungsbotschaften plakatiert. Alles vermittelt sich über die Erzählung selbst, bei der sich Naturalismus und klassische Spielfilm-Stilisierung auf eindrucksvolle Weise die Waage halten. Viele Figuren werden von Laiendarstellern verkörpert: Auch Autumn selbst. Es ist die natürliche Ausstrahlung der Musikerin Sidney Flanigan, die ihrem verstohlenen Husarenritt Glaubwürdigkeit verleiht. Obwohl sich ihr Gesicht nur selten regt, spürt man dahinter ein rühriges Herz.

Eine der stärksten Szenen des Jahres

Auch das bisherige Werk der 41-jährigen Regisseurin zeugt von Empfindsamkeit. Hittmans „Beach Rats“ (2017) handelte von einem Zärtling in einem hartschaligen Männermilieu. „Never Rarely Sometimes Always“ wirkt gleichfalls sensibel – und gibt sich betont sinnlich. Wieder liefert Hélène Louvart, eine der umtriebigsten Kamerafrauen des zeitgenössischen Kunstkinos, textursatte und taktile Aufnahmen (gedreht wurde auf 16-Millimeter-Film), während der sphärische Soundtrack von Julia Holter alles ins Traumhafte wendet. Mit dieser sanften Ästhetik bildet Hittman die Speerspitze einer neuen Generation von US-Filmemacherinnen, zu denen auch die Venedig-Gewinnerin Cloé Zhao gehört („Nomadland“).

Doch ihre Feinfühligkeit hat nichts Weichgespültes. „Never Rarely Sometimes Always“ ist ein unverblümt politischer Film, der zum Reizthema Abtreibung eindeutig Stellung bezieht. Vergleicht man ihn mit anderen Hollywood-Beiträgen zur Debatte um jugendliche Schwangerschaft (etwa mit der Hipster-Niedlichkeit der oscarprämierten Dramödie „Juno“), erscheint er wie ein Manifest für Selbstbestimmung. Und wie ein Plädoyer für weibliche Solidarität: Nur dank der Hilfsbereitschaft von Skylar kann Autumn ihren waghalsigen Plan umsetzen. Vor dem Hintergrund der rezenten Berufung einer erklärten Abtreibungsgegnerin an das Oberste Gericht der USA (oder eingedenk laufender Proteste gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen) erlangen solche Akzente noch mehr Brisanz.

Freilich ist die Kritik des Films selbst nicht über Kritik erhaben: Implizit bedient „Never Rarely Sometimes Always“ etwa das kontraproduktive Klischee einer rückständigen Provinz, der New York als frei und aufgeklärt entgegensteht. Und er zeichnet undifferenzierte Geschlechterbilder: Männer sind hier fast durchwegs verkappte Chauvinisten, Frauen nahezu ausnahmslos gütig und hilfsbereit. Doch das wirkt wie ein Nebeneffekt. In erster Linie möchte Hittman bewegen – und in einer der stärksten Kinosequenzen des Jahres, die dem Film seinen Titel gibt, gelingt ihr das ganz ohne Beiwerk und Budenzauber. Es braucht nur eine Stimme, ein Gesicht – und einen furchtlosen Kamerablick.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2020)

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