"Niemals vergessen"

Gedenken an Novemberpogrome im Zeichen der Wiener Terrornacht

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) vertrat am Montag Bundespräsident Alexander Van der Bellen, um den Novemberprogromen zu gedenken.
Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) vertrat am Montag Bundespräsident Alexander Van der Bellen, um den Novemberprogromen zu gedenken. (c) APA/HELMUT FOHRINGER (HELMUT FOHRINGER)
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Zum 82. Mal jähren sich am Montag die Novemberpogrome, in Österreich steht das Gedenken im Zeichen des Wiener Terroranschlags vor einer Woche. Die Bundesregierung will das Budget für die Unterstützung der jüdischen Gemeinde nun verdreifachen.

Zum 82. Mal jähren sich in diesem Jahr die Ereignisse der Novemberpogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die den Beginn der systematischen und gezielten Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung jüdischer Bürger in der Zeit des Nationalsozialismus markieren. Das offizielle Österreich beging den Tag, der eine Woche nach der Wiener Terrornacht nun allerorts auch im Zeichen deren Aufarbeitung steht, mit einer Kranzniederlegung am Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah am Judenplatz in Wien.

Nachdem sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei einem Sturz am Wochenende in seinem zweiten Amtssitz Mürzsteg am Becken verletzt hatte, wurde dieser von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) vertreten, der mit dem Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Oskar Deutsch, das Mahnmal besuchte.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), Vizekanzler Werner Kogler
(Grüne) und Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) gedachten mit
Deutsch der gewaltsamen Ereignisse mit einer Onlineveranstaltung
im Bundeskanzleramt. Die Pogromnacht „markierte eine folgenschwere Wende. Aus den Worten wurden Taten, die sich gegen die jüdischen Mitmenschen richteten“, sagte Kurz. Aus diesen dann „das größte Menschenverbrechen“. Das Gift des Antisemitismus sei noch immer nicht verschwunden. Dafür sei in Österreich kein Platz. Nur wer die Würde jedes einzelnen Menschen achte, habe in unsere Gesellschaft Platz. „Gegenüber der Intoleranz darf es keine falsch verstandene Toleranz geben“.

Kogler betonte, welche Folgen die „zügellose Gewalt“ jener Nacht hatte: Von sechs großen Synagogen und an die Hundert Vereinen und Gebetshäusern sei eine einzige Synagoge übrig geblieben. Das Gedenken stand dabei auch im Zeichen des jüngsten Terroranschlags in Wien mit vier Toten und mehr als zwanzig Verletzten vor einer Woche. Der Umstand, dass sich das Attentat just vor der einzigen nach der Pogromnacht übrig gebliebenen Wiener Synagoge abspielte, sei für Kurz „wahrscheinlich kein Zufall“. Der Terroranschlag in Wien mache deutlich, dass Hass Menschenleben in Gefahr bringe, sagte indes Deutsch. Jene Nacht vor 82 Jahren habe gezeigt, dass „dort, wo Hass ist, auch Lebensgefahr ist.“

Am Nachmittag folgte dann auch vor der Synagoge, vor der eines der Todesopfer am vergangenen Montag gestorben war, ein stilles Gedenken statt. Nationalratspräsident Sobotka, Vizekanzler Kogler, Kanzleramtsministerin Edtstadler und IKG-Präsident Deutsch legten vier Sträuße mit weißen Rosen nieder. Vor der Synagoge, die streng bewacht wurde, versammelten sich immer wieder Passanten vor einem Lichtermeer von Kerzen, die der Opfer in der Terrornacht genau vor einer Woche gedachten.

Budget für Unterstützung soll aufgestockt werden

Mit einem neuen „Gesetz zur Absicherung des österreichisch-jüdischen Kulturerbes“ will die Regierung die Unterstützung der jüdischen Gemeinde nun nachhaltig aufstocken. Vier Millionen Euro sollen künftig jährlich an die IKG gehen und damit mehr als dreimal so viel wie bisher.  Grund dafür sind unter anderem die Kosten für den erhöhten Schutzbedarf der jüdischen Einrichtungen, die jährlich rund 20 Prozent des bisherigen Budgets verschlangen.

Das Gesetz soll noch in dieser Woche im Ministerrat beschlossen werden. Kurz sei es „ein ehrliches Anliegen, Judentum als zentralen Bestandteil der österreichischen und europäischen Identität zu unterstützen“. IKG-Präsident Deutsch bedankte sich bei Kurz, der ihn in diesem Punkt mit dem einstigen SPÖ-Bundeskanzler Franz Vranitzky verglich: „Diese Gesetzesinitiative ist historisch. Sie unterstreicht, dass das Judentum ein selbstverständlicher Teil Österreichs ist und abgesichert sein muss.“ 

Auch Sozialdemokratie appelliert: „Niemals vergessen!“ 

ÖVP-Innenminister Karl Nehammer, der am Montag im Zuge der Großrazzia gegen die Muslimbruderschaft [premium] eine Pressekonferenz gab, sprach dort anlässlich des Gedenktages von der Notwendigkeit, immer wieder an die Vorkommnisse 1938 zu erinnern: „Niemals vergessen ist das Motto, das uns gerade in diesen Stunden mahnt, dass sich so etwas niemals wiederholt.“ Es sei „wichtiger denn je“ für Demokratie und Toleranz einzutreten“ und den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zu fördern.

Vorab unterstrich auch SPÖ-Bundesparteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner in einer Aussendung, dass das Gedenken an die Novemberpogrome für die Sozialdemokratie ein „dauerhafter Auftrag ist, Antisemitismus, Hass und Hetze mit allen Mitteln zu bekämpfen.“ Die Novemberprogrome hätten „uns vor Augen geführt, wie schnell ein Klima von Hass und Hetze den Nährboden für Gewalt und Verbrechen legen kann.“

Umso mehr sei es „unsere bleibende Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass Antisemitismus und Rassismus keinen Platz in unserer
Gesellschaft haben“. Auch Wiens Bürgermeister Michael Ludwig schrieb auf Twitter, dass „rassistische, antisemitische und fremdenfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft dürfen nie verharmlost oder negiert werden“ dürften. „Daher müssen wir gerade in diesen Tagen wachsam sein und entschieden reagieren.

Den Campus der Religionen nannte Ludwig „ein starkes Zeichen Wiens gegen Rassismus und Antisemitismus“ einer „Stadt des Friedens, des sozialen Zusammenhalts und des respektvollen Miteinanders“, die „keinen Platz für Radikalität und Diskriminierung“ biete.

In Deutschland gab es im Vorfeld des Gedenktages (und nach den gewaltsamen Ausschreitungen am Sonntag in Leipzig, wo rund 20.000 Menschen an einer „Querdenken“-Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen teilnahmen) indes Aufregung um eine in Braunschweig - ebenfalls von Coronaskeptikern - organisierte Kundgebung: Die Initiative „Querdenken 53“ hatte ursprünglich geplant, am Montagabend exakt um 18 Uhr 18 zu einer Kundgebung mit dem Titel „Geschichte gemeinsam wiederholen“ aufzurufen, wobei die Zahlenkombination als Chiffre der Neonazis gilt. Die Gewerkschaft ver.di hatte die Demonstration zuvor als „Naziveranstaltung“ bezeichnet, nach Informationen des NDR Niedersachsen wurde sie inzwischen abgesagt.

Problematische Bezeichnung „Reichskristallnacht“ 

Die Vorfälle der Novemberpogrome definieren einen historischen Wendepunkt, an dem die Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung innerhalb des NS-Regimes, die 1933 bereits begonnen hatte, in eine systematische Verfolgung, Vertreibung und schließlich den Holocaust überging. Zwischen 7. und 13. November 1938 wurden mehrere hundert Juden in Österreich und Deutschland ermordet, mindestens 300 nahmen sich das Leben. Mehr als 1400 Synagogen, Betstuben und Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden dabei zerstört. Ab dem 10. November wurden rund 30.000 Juden in Konzentrationslager inhaftiert.

Die lange im deutschsprachigen Raum verbreitete zynische bzw. euphemistische, weil verharmlosende Bezeichnung „Kristallnacht“ (aufgrund zerbrochener Fensterscheiben und anderem Glasbruch in zerstörten Geschäften, Synagogen und Gebetshäusern), wurde auch in andere Sprachen übernommen, jedoch erst in der Nachkriegszeit geprägt. In Texten der ersten Nachkriegsjahre finden sich Ausdrücke wie „Judennacht“, „Novembernacht“, „Tag der (deutschen) Scherbe“, „Reichsscherbenwoche“ oder „Verfolgungswoche“. Seit dem 50. Jahrestag 1988 wurde der verbreitete Ausdruck zunehmend von der Wissenschaft und der Öffentlichkeit problematisiert, die Debatte um eine angemessene Bezeichnung ist jedoch nach wie vor offen. 

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