Briten in Brüssel

Europäische Gnade für die letzten Mohikaner

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Rund 1000 britische Staatsbürger arbeiten noch für die Institutionen. Große Karrieren sind ihnen fortan verwehrt – geächtet sind sie aber nicht.

Der Brexit traf Colin Brown wie eine Naturkatastrophe von höherer Gewalt. Zumindest bezeichnete er selbst ihn so am 27. Februar dieses Jahres, in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht der Europäischen Union in Luxemburg. Da ging es um eine Frage, die für jene rund 1000 britischen Staatsbürger, welche noch in den Institutionen der Union arbeiten, von geldwerter Bedeutung ist. Nämlich: Verliert ein einstmals britischer EU-Beamter, der als Reaktion auf den Brexit die belgische Staatsbürgerschaft angenommen hat, seine Auslandszulage? 16 Prozent vom Bruttogehalt sind das. Und Colin Brown, Leiter der Abteilung für rechtliche Fragen von Handel und nachhaltiger Entwicklung in der Generaldirektion Außenhandel der Kommission, sieht nicht ein, wieso er sich dieses Zubrot nehmen lassen sollte. Der Brexit sei für ihn wie „force majeure“ gewesen, also höhere Gewalt. Er sei dadurch ohne Schuld in die Gefahr geraten, seinen Posten zu verlieren. Denn in den Institutionen darf man nur arbeiten, wenn man Staatsbürger eines Mitgliedstaats ist.

Das Gericht verwarf Browns Argument. Die Zulage zu verlieren sei keine unzumutbare Last. Schließlich habe er dank seines neuen belgischen Passes ja die unumstößliche Garantie, seine Stelle zu behalten. Wie der Gerichtshof der EU über Browns Berufung gegen dieses Urteil entscheiden wird, steht in den Sternen. Zweifelsfrei steht allerdings fest: Die letzten britischen Mohikaner in Diensten der Union werden nicht im Stich gelassen – egal, ob sie die Staatsbürgerschaft ihres Dienstlandes annehmen oder nicht.

Große Karrieren sind ihnen fortan zwar verwehrt. Denn spätestens ab der Hierarchiestufe des Direktors in Kommission, Ratssekretariat oder Europaparlament hat man ohne politischen Rückenwind aus der Hauptstadt seines Herkunftslands in der Regel keine Chance, beklagte ein langjähriger britischer Kommissionsbeamter schon vor mehr als zehn Jahren im Gespräch mit der „Presse“. Doch auch weiterhin sitzen einige Briten an wichtigen Positionen des Brüsseler Institutionenwerks. Manche wurden sogar heuer noch befördert. Die Kommission ernannte Stephen Quest am 1. Mai zum Generaldirektor des Joint Research Centre, also der gemeinsamen Forschungsstelle mit Sitz im italienischen Ispra. Zwei Monate später wurde Claire Bury stellvertretende Generaldirektorin in der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Mit Matthew Baldwin (Verkehr und Transport) sowie Patrick Anthony Child (Forschung und Innovation) gibt es seit 2016 zwei weitere stellvertretende Generaldirektoren.

Zahl der Briten sinkt seit Jahren

Für andere innerhalb der Institution gut vernetzte Briten wiederum schuf man unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eigens Posten. James Morrison, der frühere Kabinettschef von Catherine Ashton, der ersten Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, ist jetzt sicherheitspolitischer Hauptberater der Kommissions-Generalsekretärin, Ilze Juhansone. Ashtons früherer Pressesprecher und späterer EU-Botschafter in Island, Michael Mann, ist nun EU-Sondergesandter für Arktische Angelegenheiten.

Die Zahl der Briten in den EU-Institutionen sinkt schon seit Jahren; lang, bevor der Brexit am Horizont auftauchte. Per Jahresbeginn 2020 arbeiteten 714 britische Staatsbürger in der Union – weniger, als es Ungarn oder Bulgaren gibt. Das hat einen hausgemachten Grund, der auf die Bildungspolitik unter dem damaligen Premierminister, Tony Blair, zurückzuführen ist. Er fuhr den Fremdsprachenunterricht in den Schulen drastisch zurück. Britische Teilnehmer an den Auswahlverfahren der Institutionen hatten somit seither einen großen Wettbewerbsnachteil. Darüber hinaus zog die florierende Londoner City mit ihren Karrierechancen und reizvollen Salären viele junge kosmopolitische Briten an, die früher an einer Karriere in Brüssel interessiert gewesen wären (aus demselben Grund ist es für die Kommission schwer, Nordeuropäer anzulocken).

Paradoxerweise führt der Schwund der Briten in den Institutionen dazu, dass die Nachfrage nach britischen Talenten in all den Lobbyingfirmen, Anwaltskanzleien und Medienagenturen stark steigt, die rund um den Rond Point Schuman tätig sind. Denn das Vereinigte Königreich mag die Union verlassen; seine Sprache hingegen ist die neue Lingua franca der Union.

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