Studie

Haben die Jungen tatsächlich weniger Sex?

Rückzug ins Internet, Stress im Job: Es gibt die These, junge Menschen hätten deshalb weniger Sex als die Generationen vor ihnen. Was ist dran an der „Generation Sexless“?

Seit ein paar Jahren macht ein Gerücht die Runde: Die Jungen, also Menschen bis 30, hätten weniger Sex als die Generationen vor ihnen. Dazu gibt es Studien, etwa in den USA. Und es gibt Annahmen dazu, warum das so sei: ein Aufwachsen in wirtschaftlich und politisch instabilen Zeiten, Druck auf dem Arbeitsmarkt, finanzielle Schwierigkeiten, ein stabiles, eigenständiges, unabhängiges häusliches Leben zu entwickeln. Und natürlich: das Internet, die Technologisierung des Lebens, der Rückzug aus einer Welt, in der man Menschen trifft – in Echt.

Nun, in Zeiten einer Pandemie, von Ausgangssperren und Lockdowns, Zoom-Konferenzen, von Home-Office und Distance-Learning, ist es freilich so: Für Singles ist die klassische Partnersuche de facto illegalisiert; Paare in Fernbeziehungen stehen vor geschlossenen Grenzbalken. Und wer in nicht stabilen Beziehungen ist, dem fällt die Decke auf den Kopf. Die Aussicht auf Sex ist für viele junge Menschen dieser Tage eine nebelige. Aber lässt man die Coronakrise beiseite: Stimmt es, dass diese Generation tatsächlich weniger Sex hat?

»Die „Aufreißkultur“ ist für Frauen nicht immer mit angenehmen Erlebnissen verbunden.«

Noch immer Tabu. Einfach ist es nicht, eine Antwort auf die Frage zu bekommen: Wie oft hast du Sex? Eine Antwort, die auch stimmt. Ein aktives Sexleben wird mit Erfolg, mit Attraktivität gleichgesetzt. Quantität vor Qualität, könnte man meinen. Wer sagt also gern direkt, wie oft er Geschlechtsverkehr hat? Die korrekte Zahl könnte ja immer noch niedriger sein als die eines anderen.Auch wenn Sex in den vergangenen Jahrzehnten an oft lauter medialer Präsenz gewonnen hat und manche Wissenschaftler seit Jahren von einer Pornografisierung der Gesellschaft berichten: Sexualität ist nach wie vor ein Tabuthema. Und sie ist vor allem nicht bloß auf Sex herunterzubrechen – also auf Geschlechtsverkehr allein. Und hier beginnt die These einer „Generation Sexless“, einer Generation ohne Sex also, Risse zu bekommen.

Junge Männer ohne Sex. Was sagen also die Zahlen? In den USA deuten Daten der repräsentativen General Social Survey, die seit den 1970er-Jahren von der Universität Chicago durchgeführt wird, auf einen Einbruch der sexuellen Aktivität – misst man sie in „sexuellen Begegnungen“ – seit dem Jahr 2008 bei Amerikanern hin. Besonders Männer in ihren Zwanzigern haben demnach weniger Sex.

Untermauert wurde das auch durch eine 2020 veröffentlichte Studie eines internationalen Forscherteams, angeführt vom schwedischen Mediziner Peter Ueda, der am Karolinska-Institut in der Nähe von Stockholm forscht. Die Wissenschaftler analysierten die Daten der General Social Survey aus den Jahren 2000 bis 2018 und verglichen die Antworten der Teilnehmer aus den Jahren 2000 bis 2002 und 2016 bis 2018 miteinander. Das Ergebnis: Gaben in der Gruppe aus den frühen 2000er-Jahren 18,9 Prozent der 18- bis 24-jährigen Männer an, im Vorjahr keinen Sex gehabt zu haben, waren es in der 2010er-Gruppe 30,9 Prozent. Bei den Frauen lagen die Werte näher beieinander: 15,1 gegen 19,1 Prozent. In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen waren die Verschiebungen zu weniger Sex minimal.

» „Zurückhaltung beim Partnersex oder vorübergehende sexuelle Lustlosigkeit bei jungen Erwachsenen können verschiedene Gründe haben und sollten von einer mehr oder weniger dauerhaften Asexualität unterschieden werden.“«

Ueda und seine Kollegen versuchten auch Hypothesen vorzulegen, um Gründe für die Verschiebungen zu finden. An Pornografie und Arbeitslast, meinten sie, liege es nicht. Plausibler fanden sie Gründe wie die Änderung sexueller Normen, Alltagsstress – Stichwort Work-Life-Balance – und die Prävalenz von Online-Unterhaltung. Auch strichen die Forscher einen Anstieg bei Depression und Angststörungen bei jungen US-Amerikanern als mögliche Gründe hervor, genauso, dass das Erwachsenenleben – und damit einhergehend Sex und partnerschaftliche Beziehungen – mittlerweile eher später starte. Die Hypothese, dass etwa das Smartphone zu einer Art Blockade von Kontakten und Interaktionen „in der echten Welt“ führe, erwähnten sie ebenso.Dass vor allem junge US-Amerikaner weniger Sex haben, führten die Forscher auf Gründe zurück, die viel mit sozialem Status zu tun haben. Besonders Männer mit niedrigem Einkommen und schlechten oder gar keinen Arbeitsverhältnissen fielen in diese Gruppe. Die immer weiter werdende Kluft zwischen sozioökonomisch Schlechter- und Bessergestellten übersetze sich auch auf den, wie man so schön sagt, Dating-Markt.

Die Verringerung sexueller Aktivität bei jungen Männern traf zudem der Studie zufolge nur auf Heterosexuelle zu. Bei jungen Frauen hingegen – tendenziell besser ausgebildet – führt die Studie andere Hypothesen ins Feld: etwa, dass die „Aufreißkultur“ für Frauen nicht immer mit angenehmen Erlebnissen verbunden sei. Auch ein möglicher Anstieg sexueller Gewalt gegen Frauen wird erwähnt.

Die Presse/Clemens Fabry

Gleichbleibende Trends. Für Österreich gibt es keine so umfassenden Studien. Insofern sind die Ergebnisse aus den USA so nicht eins zu eins umzulegen. Eine letzte weitreichende Analyse stammt von der Soziologin und Sexualpädagogin Barbara Rothmüller, die an der Sigmund-Freud-Privatuniversität forscht und an der Universität Wien unterrichtet. Rothmüller startete im Vorjahr eine Studie zu „Intimität, Sexualität und Solidarität in der Covid-19-Pandemie“, über die „Die Presse am Sonntag“ bereits berichtete.Rothmüller sagt, dass sie einen Trend zu einer „Generation Sexless“ so nicht erkennen könne. Sie berichtet von Elternabenden, wo davon ausgegangen werde, dass heutige Jugendliche früher und mehr Sex hätten; wenn man sich etwa repräsentative Jugendstudien aus Deutschland ansehe, bemerke man aber, dass das Alter beim ersten Sex gleichbleibend mit anderen Generationen sei – „oder sogar ansteigt“: „Jugendliche brauchen eine gewisse Zeit, bis sie eine Person finden, mit der sie sich auch Geschlechtsverkehr vorstellen können.“ Geschlechtsverkehr sei nur eine Form, Sexualität zu leben. „Neben Sexualität mit einem Partner haben Jugendliche ja auch Solosex oder schauen Pornos“, sagt die Forscherin. „Zurückhaltung beim Partnersex oder vorübergehende sexuelle Lustlosigkeit bei jungen Erwachsenen können verschiedene Gründe haben und sollten von einer mehr oder weniger dauerhaften Asexualität unterschieden werden.“

»„Früher hat man einander Liebesbriefe geschrieben oder miteinander telefoniert, und die Erwachsenen dachten, die Jugend wird durch Illustrierte verdorben. Jetzt nutzen Jugendliche dafür digitale Medien, das ist an sich noch kein Problem.“ «

Zahlen für die Altersgruppe 18 bis 29 im Raum Deutschland-Österreich-Schweiz hat der Onlineshop Amorelie, der unter dem Slogan „Sex Your Way – Sex ist so vielfältig wie die Menschheit“ Sex-Zubehör verkauft. Und die Zahlen sagen: Jeder Dritte ist eher nicht oder gar nicht mit seinem Sexleben zufrieden. Fast jeder Dritte befriedigt sich einmal im Monat, zwölf Prozent nie. 22 Prozent der Befragten – knapp 500 Personen – fühlen sich gut informiert zum Thema Sex. Fast 80 Prozent reden offen mit ihrem Partner über sexuelle Wünsche. Nur 13 Prozent sagen, häufiger Sex sei ein Indikator für guten Sex – und 38 Prozent der Befragten haben mehrmals die Woche Sex.Der Amorelie-Umfrage zufolge ist das der höchste Prozentsatz in allen Altersgruppen. Aber: Rothmüller betont, dass Sexualität nicht allein am Geschlechtsverkehr gemessen werden könne. „Sexualität hat viele Dimensionen: eine emotionale Dimension, eine Beziehungsdimension, eine körperliche Dimension, eine kognitive Dimension – was Werte, Fantasien und Vorstellungen betrifft.“ Sexualität könne sich genauso gut „in Träumen, in Gedanken“, abspielen, was wichtig sei. „Es kann aber auch eine Attraktion, das heißt ein sexuelles Begehren sein: dass man auf bestimmte Menschen steht, auf bestimmte Dinge, auf bestimmte Praktiken. Und die Praktiken – also das, was man macht – sind wiederum die dritte Dimension. Das kann mit den Träumen, den Wünschen, dem Begehren zusammenhängen – oder auch nicht.“ Dazu kämen vielfältige Beziehungskonstellationen.

Rothmüller meint, dass man in puncto neuer digitaler Medien nicht „undifferenziert in einen Alarmismus“ verfallen solle. „Früher hat man einander Liebesbriefe geschrieben oder miteinander telefoniert, und die Erwachsenen dachten, die Jugend wird durch Illustrierte verdorben. Jetzt nutzen Jugendliche dafür digitale Medien, das ist an sich noch kein Problem.“

Werteverschiebung. Hier setzt der Generationenvergleich also doch wieder ein. Immerhin: Social Media etwa kann einen enormen Druckfaktor für junge Menschen darstellen. „In den letzten Jahren hat die digitale sexuelle Kommunikation zugenommen“, sagt Rothmüller. Dazu gehören Nacktfotos, die verschickt werden, und Kurzvideos – „das ist unter Erwachsenen recht verbreitet, aber auch bei Jugendlichen. Es ist sozusagen Teil des sexuellen Repertoires. Was Jugendliche erleben, ist, dass sie auch unerwünschte sexuelle Nachrichten bekommen.“ Vor allem junge Mädchen seien früh mit unerwünschten sexuellen Inhalten konfrontiert.

Diese Erfahrungen können prägend sein. „Sie sind ein Baustein für die sexuelle Entwicklung“, sagt die Expertin – wie sich das auf das Leben auswirkt, hänge auch damit zusammen, welche sexuellen Erfahrungen man davor gemacht habe. Letztlich hänge es auch von der gesellschaftlichen Debatte ab, wie man grenzverletzende Erfahrungen einordnet. In dem Zusammenhang betont Rothmüller, dass Menschen, die besonders verletzlich sind – beispielsweise Menschen mit Behinderungen, Menschen, die Diskriminierung erleben mussten, und auch queere Menschen, also etwa homosexuelle, bisexuelle, transgeschlechtliche Menschen – viele Barrieren überwinden müssten, damit sie ihre Sexualität selbstbestimmt leben können.

Prinzipiell glaubt Rothmüller nicht, dass sexuelle Beziehungen für junge Menschen in den Hintergrund gerückt sind. Sie sieht allerdings eine Verschiebung bei Werten. Jugendliche seien etwa Promiskuität gegenüber toleranter: „Aber das heißt nicht, dass Treue nicht trotzdem ein ganz wichtiger Wert für junge Menschen ist. Das besteht nebeneinander. Es gibt eine Offenheit gegenüber einer selbstbestimmten Sexualität, die in verschiedenen Beziehungsformen gelebt werden kann.“

Steckbrief

Barbara Rothmüller
Die Soziologin und Sexualpädagogin legt den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf „Geschlechter-, Intimitäts- und Sexualitätsforschung, Bildungssoziologie, Ungleichheiten, soziale Klassen und Kultur“. Sie forscht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität, zudem unterrichtet sie an der Universität Wien.

Covidstudie
Rothmüllers Forschungsprojekt „Intimität, Sexualität und Solidarität in der Covid-19-Pandemie“ sorgte für große Aufmerksamkeit. Nach der ersten Befragung im April 2020 startete Rothmüller mit ihrem Team mittlerweile eine zweite Runde. Zwischenergebnisse gibt es auf ihrer Webseite, barbararothmueller.
net/aktuelles.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2021)

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