Philosophie: Die Vernunft ist eine Marionette des Urwillens

Philosophie Vernunft eine Marionette
Philosophie Vernunft eine Marionette(c) APA (ARIENNE MEISTER)
  • Drucken

Vor 150 Jahren starb Arthur Schopenhauer. Er wies den Weg aus dem blinden Lebenswillen zu Kunst, Askese und Mitleid. Es gibt keinen Gott, kein Jenseits, kein Glück. Alles Leben ist Leiden.

Am liebsten sprach er noch mit seinem Pudel Butz, Menschen waren Schopenhauer meist verhasst. Liebste Opfer seiner Häme waren Frauen und Professoren. Zum Dank ignorieren Berufsphilosophen bis heute den Eigenbrötler, der keine Schule gründete und – von Nietzsche abgesehen – ohne Nach-Denker blieb. Dennoch diffundierte der Pessimismus des „schwarzen Metaphysikers“ in die Bürgerzimmer – besonders aber in die Köpfe der Psychologen und die Herzen der Künstler, von Freud bis Bernhard.

Es gibt keinen Gott, kein Jenseits, kein Glück. Alles Leben ist Leiden: Mit heroischer Illusionslosigkeit stürzen sich Schopenhauers Jünger in den Abgrund der „schlechtesten aller Welten“. Bevor sich die „Welt als Wille und Vorstellung“ ins Nirwana beamt, dockt sie an Kant an. Von ihm übernimmt Schopenhauer die idealistische Erkenntnistheorie: dass die sinnlich erfahrene und vom Verstand strukturierte Welt ein Produkt unserer Vorstellung ist. Was sie an sich ist, unabhängig vom Erkenntnisvermögen, darüber verhängt Kant ein Bilder- und Denkverbot. Nur im Moment der Handlung blitzt auf, was wir selbst „an sich“ sind: frei. Das unserer Vernunft einsichtige Sittengesetz liefert den Beweis: Ich kann, weil ich soll.

Dieses kopflastige Ich stellt Schopenhauer auf den Kopf, schüttelt es, bis jeder die metaphysische Schwere der Eingeweide spürt. Das „Ding an sich“ erleben wir in unseren vernunftlosen Affekten. Essen, Habgier, Sex – fühle dich in dich hinein, und du erkennst den Willen als Wesen der Welt. Wie ein Krake mit zahllosen Tentakeln objektiviert sich der Urwille in der Sinneswelt: Im Menschen kommt er zu seinem Bewusstsein. Als Urgrund ist dieser Wille „frei“ – wer sollte ihn steuern? Die Kausalität in der Erfahrungswelt ist nur Element der Objektivierung. Der einzelne Mensch aber kommt mit einem fertigen Charakter zur Welt.

Unendliches Leid

Zwar stammt der Charakter, wie bei Kant, von jenseits der Erfahrungswelt, doch bei Schopenhauer ist er nur Teil des Urwillens. Über die Willensfreiheit des Individuums, das aus ihr seine Würde bezieht, kann er nur höhnen: Wir können tun, was wir wollen, aber wir können nie anderes wollen, als was wir wollen. So ist die Vernunft eine Marionette des Urwillens, und was sie aufgeregt zappeln lässt, ist die nützliche Illusion, sie sei autonom. In Schopenhauers System liegt der Berührungspunkt von Freiheit und Erfahrungswelt im seltenen Gnadenakt einer nicht herbeizuzwingenden Erkenntnis: dass wir, wenn wir uns eigennützig durchs Leben boxen, das Leid der Welt nur vergrößern.

Das wirkt auf den Willen als „Quietiv“, als Beruhigungspille. Wissen kann keine Handlung auslösen, lehrte Hume. Der Urwille muss zustimmen, damit wir Konsequenzen ziehen: Askese, Mitleid, Selbstaufopferung. Er tat und tut es, nicht im Kotzbrocken Schopenhauer, aber in Heiligen und Helden. Ist er nicht, wenn auch ohne Ziel, ein Wille zum Leben? Warum steckt er zurück? Weil er sich durch Verzicht im Einzelnen in Summe steigert – so scheint Schopenhauer den Widerspruch gewitzt zu umschiffen. Doch letztlich bedeutet das die Selbstauslöschung des Gesamtwillens. Wir verweigern Fortpflanzung, am Ende steht der kollektive Tod einer Gemeinschaft von Asketen. Das kann der Wille nicht wollen: Der Widerspruch bringt Schopenhauers Systemgebäude zum Einsturz.

Doch hat seine Mitleidsethik Furore gemacht: als Versuch, Gut und Böse nicht rational, sondern durch das Fühlen zu erklären. So findet Moralphilosophie ins Leben zurück, zu einem hohen Preis: Sie ist nicht argumentierbar. Mitleid hat man – oder nicht. Es lässt sich nicht fördern, schulen, stärken, das alles erfordert Gnadenakte des Willens. Ihm müssen wir dienen. Er mag der Urgrund aller Dinge sein, aber er ist kein guter Grund, Gutes zu tun. Hat Schopenhauer also ausgedient? Nein. Sein inkonsequentes System könnte ein Stachel im Fleische unseres weit inkonsequenteren Weltverständnisses sein. Eines kann uns keiner nehmen, ist unser Motto: die pure Lust am Leben.

Unbestechlicher Blick

Auch kein grantiger Philosoph, der Verzicht predigt und uns zwingt, das Elend hinter der Lebensgier zu sehen. Zugleich sind wir, als willige Jünger der Wissenschaften, zu gern bereit, den freien Willen des Individuums ins Endlager der historischen Irrtümer zu räumen. Fröhlich-naiv suchen wir das „moralische Gen“. Nur die bitteren Konsequenzen eines solchen Menschenbildes ziehen wir nicht. Schopenhauer aber hat es getan, mit dem unbestechlichen Blick dessen, der sich vom Leben nichts erwartet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.