Film

Ein Sänger im Schatten von Indiens Starmania

Ein Musikmeister und sein Schüler in "The Disciple".
Ein Musikmeister und sein Schüler in "The Disciple".(c) Courtesy of Netflix
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Das sehenswerte indische Musikdrama „The Disciple“ erzählt, wie ein Gesangsschüler scheitert – an den hohen Ansprüchen seiner Kunst und am Wandel der Zeit. Auf Netflix.

„Wie komme ich in die Carnegie Hall?“, fragt jemand einen Passanten in New York. „Ganz einfach“, lautet dessen Antwort in einem alten US-Witz: „Üben, Üben, Üben!“ Ohne Fleiß kein Preis, zumal in der exzellenzbasierten Welt der klassischen Musik. Und bei Khyal, einem traditionsreichen indischen Gesangs- und Instrumentalstil. Jahrzehntelanges Training ist hier Grundvoraussetzung für Meisterschaft und Anerkennung. Wer sich mit Leib und Seele dem Feinschliff verschreibt, allen weltlichen Ablenkungen abschwört und mit eisernem Willen das Ziel der Talentoptimierung verfolgt, dem ist ein Platz im Pantheon der Virtuosen sicher. Oder?

Der junge Sharad (Aditya Modak), Hauptfigur des Dramas „The Disciple“ (seit Freitag auf Netflix), glaubt felsenfest an diesen Meritokratiemythos. Verzückt hängt der gelehrige Schüler an den Lippen seines „Gurujis“ (Arun Dravid), wenn sich dieser zu Trommel- und Lautenklängen in melismatischer Vokalimprovisation ergeht. Verbissen paukt er in seiner tristen Klause Ragas und Melodien. Selbst wenn der Streber zur Entspannung auf dem Moped durchs nächtliche Mumbai cruist, pumpen Kopfhörer die Mantras einer Khyal-Legende in seine Ohren: Parolen über heilige Pflichten und ewiges Streben, Askese und Opferbereitschaft. Ein Künstler müsse lernen, „einsam und hungrig“ zu sein. Sharad, der rechtschaffene Einzelkämpfer, ist zu allem bereit. In seinen Augen brennt religiöser Eifer.

Selbstzweifel dank Zeitenwandel

Doch was ist, wenn es einfach nicht sein soll? Wenn das Beste, das man gibt, nicht gut genug ist? Oder wenn die Kunstform, auf der die eigene Identität gründet, im Begriff ist, aus der Zeit zu fallen? Das sind die durchaus existenziellen Fragen, denen Regisseur Chaitanya Tamhane in „The Disciple“ nachgeht. 2014 lancierte ihn sein justizkritisches Debüt „Court“ als Hoffnungsträger des indischen Autorenkinos.

Mit seinem vom Starfilmer Alfonso Cuarón („Roma“) koproduzierten Zweitling, der 2020 in Venedig mit dem Drehbuchpreis bedacht wurde, verteidigt er diesen Titel souverän. Subtil, aber nachdrücklich schildert „The Disciple“, wie Sharads monomanischer Idealismus stückweise von der Wirklichkeit abgewetzt wird. Erfolge bei Musikwettbewerben bleiben aus, auf YouTube sticheln Kommentare: „Langweilig“.

Sogar der alternde Mentor hat kaum gute Worte für ihn übrig, mäkelt an der Disziplin seines Adlatus. Ironischerweise profitiert der Film von mangelnder Vertrautheit mit Khyal, weil man ohne Qualitätsmaßstab stärker Anteil an Sharads Selbstzweifeln nimmt: Nie ist klar, ob die Kritik an seinen Leistungen berechtigt ist.

Lohnt sich die musikalische Mühsal?

Doch selbst wenn nicht: Lohnt sich all die Mühsal? Kein Mensch kennt mehr die Helden dieser Zunft, das Volk lauscht lieber Indiens Starmania, hört Spotify statt verstaubter CDs. Wozu archaische Gesangsregeln studieren, die im Geschmacksstrudel der digitalisierten, Image-fixierten Gegenwart keine Rolle mehr spielen?

Es ist Tamhane anzurechnen, dass er Sharads Donquichottiade trotzdem ernst nimmt. Auch ästhetisch: Immer wieder überträgt sich der meditative Sog der Musik auf die Bildsprache, gleitet die Kamera tranceartig auf Khyalkonzerte zu. Dennoch hat „The Disciple“ Sozialkritik im Sinn: Die Obsession der Hauptfigur wurzelt im sturen Geltungsdrang ihres Vaters. Frauen bleiben im Film bewusst Randfiguren. Ein bisschen erinnert das Ganze auch an die Pixar-Jazzgeschichte „Soul“. Nur bleibt das Ende hier ambivalent. Obwohl eines außer Frage steht: Als Genre wird Khyal auch unter veränderten Vorzeichen weiterleben.

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