Wort der Woche

Immer mehr Mikroplastik gelangt in die Natur

Das ist eine Gefahr für viele Lebewesen - aber in manchen Lebensräumen paradoxerweise auch die Basis für neues Leben.

Covid-19 hat nicht nur uns Menschen in eine Krise gestürzt – die Pandemie hat auch unliebsame Folgen für die Umweltverschmutzung. Viele Studien und Statistiken belegen, dass niemals zuvor so viele Plastikprodukte gekauft wurden wie in den vergangenen eineinhalb Jahren. Das betrifft Plastikflaschen genauso wie in Kunststoff verpackte Lebensmittel und Schutzmasken. Gerade Letztere sind eine ungeahnte Quelle von Mikroplastik, wie chinesische Forscher um Maocai Shen (Hunan University) herausgefunden haben: Innerhalb von zwei Monaten, in denen ein weggeworfener Mund-Nasen-Schutz Sonne, Wind und Wetter ausgesetzt ist, gibt er eine Milliarde feinster Mikroplastik-Fasern in die Umwelt ab (Science of the Total Environment, 29. 5.).

Erst dieser Tage wurde in einem Überblicksartikel in Science (2. 7.) davor gewarnt, dass sich die Plastikverschmutzung binnen eines Jahrzehnts verdoppeln könnte. In jüngster Zeit häufen sich die Beweise, dass Mikroplastik schädlich für viele Lebewesen ist – etwa für Wasserflöhe oder Muscheln, deren Wachstum gehemmt wird, aber auch für Säugetierzellen, in denen Entzündungen, Membran- und Erbgutschäden ausgelöst werden können.

Gleichzeitig verdichten sich die Hinweise, dass Mikroplastik in der Natur – langsam – abgebaut wird. Auch in unwirtlichen Lebensräumen wie der Tiefsee. Das Wasser ist dort sehr nährstoffarm: Bei niedrigen Temperaturen und ohne Licht gibt es keine Fotosynthese, alle Nährstoffe kommen von oben – in Form von abgestorbener Biomasse, die als „Meeresschnee“ nach unten sinkt. In jüngster Zeit mischt sich auch Plastik darunter und wird von der Natur sogleich als Kohlenstoffquelle genutzt.

Brasilianische Forscher um Luna Agostini (Uni São Paolo) haben Plastikproben an drei Stellen im Atlantik in 3300 Meter Tiefe versenkt und nach knapp zwei Jahren wieder geborgen. Bei der Analyse des „Biofilms“ auf der Plastikoberfläche wurden viele Bakterienarten gefunden, von denen bekannt war, dass sie Polymere abbauen können („Plastisphäre“) – und auch neue Arten, von deren Existenz und Fähigkeiten man bisher nichts wusste (Total Env., 8. 6.). Das Artenspektrum hängt interessanterweise fast ausschließlich vom chemischen Aufbau der Kunststoffe ab – und nicht von der Region, in der das Plastik versenkt wurde.

So paradox es klingen mag: Mikroplastik – unbestritten eines unserer größten Umweltprobleme – kann für spezialisierte Organismen in einer extremen Umgebung neue Lebensräume schaffen.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.07.2021)

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