Film

Es lebe der Rausch, auch wenn er uns tötet

Da sind sie noch gut drauf, die trinkenden (Anti?-)Helden der Tragikomödie „Der Rausch“.
Da sind sie noch gut drauf, die trinkenden (Anti?-)Helden der Tragikomödie „Der Rausch“. [ Filmladen/Henrik Ohsten ]
  • Drucken

Der dänische Regisseur Thomas Vinterberg wagt mit „Der Rausch“ viel: eine empathische Sozialsatire über frustrierte Lehrer, in der die Vorteile des Trinkens nicht unterschlagen werden. Muss man gesehen haben, ob nüchtern oder nicht.

Auf den Alkohol, den Ursprung und die Lösung sämtlicher Lebensprobleme!“, ruft Homer, der Familienvater der „Simpsons“, prostend in die Menge, nach dem Ende der Prohibition in seiner Heimatstadt Springfield. Der Spruch des notorischen Biertrinkers aus der satirischen Zeichentrickserie fasst das Verhältnis westlicher Gesellschaften zum Alkohol besser zusammen, als es Diskurse über das legale Rauschmittel gestatten. In eine ähnliche Kerbe schlägt nun auch Thomas Vinterberg mit seiner Tragikomödie „Der Rausch“, die mit dem Auslands-Oscar prämiert wurde.

Der Däne liefert eine Charakterstudie über vier frustrierte Schulbeamte in der Midlife-Crisis: drei Lehrer, für Geschichte, Musik und Sport, sowie ein Schulpsychologe. Sie saufen sich systematisch Selbstvertrauen an, um auf Augenhöhe mit ihren trinkfesten Schülern zu bleiben. Der Filmemacher behauptet eine Ausgewogenheit zwischen schädlichen Folgen und Vorteilen erhöhten Alkoholkonsums, die auf den ersten Blick provokant anmutet und in der Kinogeschichte kaum Vorbilder hat.

Ausgangspunkt für den dynamischen Handlungsverlauf des brillant geschriebenen Comedy-Dramas ist die absurde Idee eines Psychologen aus dem 19. Jahrhundert, dass der Mensch mit 0,5 Promille zu wenig Alkohol im Blut auf die Welt kommt. Martin (nuanciert verkörpert von Mads Mikkelsen), Tommy (raubeinig gespielt von Thomas Bo Larsen), Peter (Lars Ranthe als empfindsamer Musiker) und Nikolaj (Magnus Millang betont slapstickhaft) stürzen sich bei einem seltenen Männerabend auf die zweifelhafte Theorie, um aus ihr ein Regelwerk für die Rückeroberung ihrer Lebenslust abzuleiten. Sie nehmen sich vor, jeden Tag so viel zu saufen, dass sie auf den vorgeschriebenen Pegel kommen.

Statt das Schema von der bösen Trinksucht zu bedienen, die heile bürgerliche Existenzen ins Verderben stürzt, bürstet Vinterberg sämtliche Klischees aus konservativen Hollywood-Säuferdramen sarkastisch gegen den Strich. Der Selbstversuch entpuppt sich nämlich als Erfolg. Die Männer werden fröhlicher und mutiger. Teilweise hat man sogar den Eindruck, dass ihr Trinkverhalten ein probates Mittel des Widerstands gegen den Anpassungsdruck in ihrem enthaltsamen Milieu darstellt. Ein kleiner, wenn auch heimlicher Triumph des Hedonismus über die nüchterne Vernunft.

Martin schwärmt im Geschichtsunterricht bald von den saufenden Anführern im Zweiten Weltkrieg (Churchill und Roosevelt gegen Hitler, der nie trank). Tommy motiviert unter Alkoholeinfluss einen Außenseiter-Buben zum Fußballerfolg. Peter verhilft einem prüfungsängstlichen Burschen durch einen tiefen Schluck aus seiner mutmaßlichen Wasserflasche zur Matura. Und Nikolaj erlebt die positive Verwandlung seiner Freunde als Epiphanie.

Treibstoff der Leistungsgesellschaft

Probleme tauchen erst auf, als die Männer die Dosis erhöhen und sie ihre Trunkenheit im Alltag nur mehr schlecht kaschieren können. Die Macht des Alkohols, scheint die Botschaft zu sein, ist nicht verständlich, wenn man ihn nicht als Treibstoff für das Funktionieren begreift, und seinen Missbrauch als Ausdruck für die Defekte westlicher Gesellschaften. Vinterberg übt Kritik an der Tristesse eines angepassten Lebens in der Leistungsgesellschaft. Das Experiment kittet die zersetzende Langeweile im Berufsleben der ausgebrannten Herren und ihre Apathie im Familienalltag nur provisorisch. Ohne jeden Anflug von Sentimentalität demonstriert „Der Rausch“, wie ergiebig der Fokus auf Kampfsäufer sein kann, wenn man sie empathisch inszeniert, als autonome Wesen und nicht als bemitleidenswerte Suchtopfer. Die Leichtigkeit, die von den Tanzeinlagen eines beschwingten Mads Mikkelsen im Vollrausch ausgeht, wiegt die Schwere seiner Entfremdung von Ehefrau und Kindern nur bedingt auf. Obwohl ihm die Flucht aus seiner emotionalen Erstarrung zeitweise gelingt, verschafft sie Martin allenfalls Trost, aber keine Erlösung.

Vinterberg erhebt weder den moralischen Zeigefinger noch schwelgt er in Rock'n'Roll-Pathos. Dadurch wirkt sein differenzierter Beitrag zum Thema Alkoholismus überzeugend. Selbst als die Männer die Kontrolle über ihr Projekt verlieren, zeigt er sie noch lustig im Supermarkt herumtaumeln. Immer bewahrt die humanistische Sozialsatire ihren zärtlichen Humor, ungeachtet aller zwischenzeitlichen Zerwürfnisse und Todesfälle, für die der erhöhte Alkoholkonsum nur der Auslöser, aber nicht die tiefer liegende Ursache ist. Muss man gesehen haben, ob nüchtern oder nicht!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2021)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.