Niamh Algar in "Censor"
Kino

Ein verbotener Film schlägt zurück

Im sehenswerten Horrordrama „Censor“ verliert sich eine junge Filmsittenwächterin in den Abgründen unheimlichen Videomaterials. Am 27.7. feiert das Langfilmdebüt der Waliserin Prano Bailey-Bond Slash-Festivalpremiere im Filmcasino - und läuft ab Freitag regulär im Kino.

Das Augenausstechen muss raus, steht im Notizblock der Zensorin Enid. Die Szene, in der der Kopf abgetrennt wird, kann drinbleiben – die ist maßlos übertrieben. Das Tauziehen mit den Eingeweiden auch. Aber das mit den Augen? Viel zu realistisch. Manche Dinge sollte man besser der Fantasie überlassen. Sonst könnten Menschen auf dumme Gedanken kommen – Mordgedanken zum Beispiel. Oder, noch schlimmer, Beschwerde bei den Behörden einreichen: Ein elendes Gfrett. Also macht die Schere lieber Schnipp.

Und Enid hat sie fest im Griff. Im britischen Horrordrama „Censor“ sichtet die junge Frau (Niamh Algar, bekannt aus der Sci-Fi-Serie „Raised by Wolves“) Tag für Tag VHS-Kassetten, die vom moralpanischen Zeitgeist im England der 1980er-Jahre mit dem Label „Video Nasty“ gebrandmarkt (und zum Teil kriminalisiert) wurden: Schundige Billigstproduktionen voller Sex und Gewalt, als Nervenkitzler unterm Ladentisch gehandelt. Auch arglose Thriller, exzentrische Kunstunikate, heutige Genreklassiker und umstrittene Meilensteine der Leinwandprovokation („Cannibal Holocaust“).

Kampf gegen die Schere im Kopf

Die überkorrekte Berufsstutzerin behandelt alles mit der gleichen, kalten Professionalität. Blut und Beuschel bringen sie nicht aus der Fassung, selbst Vergewaltigungssequenzen lässt sie reglos über sich ergehen. Bis ihr ein Film unterkommt, in dessen verrauschtem Videomaterial sie ihre verschollene Schwester wiederzuerkennen glaubt. Er schickt sie auf einen Albtraumtrip in die Untiefen des Unbewussten, wo alles lagert, was der Schere in ihrem Kopf je zum Opfer fiel . . . Es ist ein feinsinnig verstörendes Stück Retro-Schrecken, dass die 39-jährige Waliserin Prano Bailey-Bond in ihrem Langfilmdebüt auftischt. Ausgesucht die ästhetische Aufmachung: Moosgrün-beiges Bürodekor, das in der Freigabezentrale des British Board of Film Classification ungut aufs Gemüt drückt, fiebriger Magentaschimmer und subtile Spiele mit dem Bildformat beim schleichenden Abstieg ins Delirium, kennerhafte Nachgestaltung gruseliger Ramschfilmoptik.

Schlau der sozialkritische Subtext: Sind es nicht eher die Verdrängungsmechanismen der Gesellschaft, die für Gewalt sorgen, nicht deren verfemte Video-Ventile? Im Hintergrund wuchern die Verwerfungen des Thatcherismus und die Auswüchse einer alteingesessenen Macho-Kultur. (Wer will, kann den Film auch ganz gegenwärtig als „Cancel Culture“-Parabel lesen.) Entsprechend steckt Bailey-Bond zum Schluss die Schere weg – und holt mit der Axt weit aus.

Mit „Censor“ reiht sie sich in gleich zwei Riegen jüngeren UK-Genreschaffens ein: Der reflexiven-intellektuellen eines Peter Strickland („Berberian Sound Studio“) und der feministisch unterfütterten von Rose Glass („Saint Maud“), Ramola Garai („Amulet“) und Emerald Fennell („Promising Young Woman“). Nur: Etwas gar durchdacht kommt dieser achtbare Einstand daher, ein bisschen weniger konzeptuelle Zügelung hätte nicht geschadet. Dabei weiß Bailey-Bond nur zu gut: Manche Dinge sollte man besser nicht der Fantasie überlassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2021)

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