Literatur

Zärtlichkeit existiert nicht

Verrohtes Denken und strukturelle Gewalt: Fernanda Melchors Roman „Paradais“.

Paradais, das ist ein Paradies für reiche Mexikaner – eine bewachte Wohnanlage mit Villen und Bewohnerinnen „immer mit Sonnenbrille, immer frisch wie der blühende Tag hinter den verdunkelten Scheiben ihrer dicken Autos, die Haare getönt und geglättet, die Nägel lackiert“. Und mit Männern, die diese Frauen herzeigen, „mit dem Stolz des Besitzers, der sein Revier markiert oder sein Preisvieh vorführt“. Kein Paradies ist es für den 16-jährigen Gärtner Polo, der abends nach seinen überlangen Arbeitstagen in seine mausarme Behausung im nahe gelegenen Dorf zurückkehrt. Nach getaner Arbeit betrinkt er sich regelmäßig mit Franco, einem wohlstandsverwahrlosten Gleichaltrigen aus der Villensiedlung, der jeweils detailreich berichtet, „welche Pornos er schaute oder wie oft am Tag er masturbierte“, oder was er mit seiner Nachbarin „anstellen würde, wenn er sie endlich zu fassen kriegte“.

Statistisch gesehen gibt es in Mexiko wesentlich mehr Menschen wie Polo als Franco – vor Pandemiebeginn lebten fünfzig Prozent der Mexikaner an der Armutsgrenze, zehn Prozent in extremer Armut. Fernanda Melchor erzählt jedoch nicht primär von sozialer Ungleichheit, sondern schleudert den Lesenden diese mit all ihren Konsequenzen in erbarmungsloser Sprache entgegen. „Paradais“ ist ein Roman über Gewaltfantasien, Gewaltverbrechen, aber auch die strukturelle Gewalt der Diskriminierung.

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