Leitartikel

Es gibt mehr über Afghanistan zu reden als nur über Abschiebungen

Kabul, Afghanistan - Internationaler Flughafen, Hamid Karzai
Kabul, Afghanistan - Internationaler Flughafen, Hamid Karzai(c) imago images/ZUMA Wire (U.S. Marines via www.imago-images.de)
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Der chaotische Rückzug aus Kabul ist ein Vorgeschmack auf die Ära des „America First“. Die EU – und auch Österreich – haben viel zu besprechen.

Wer in den vergangenen Wochen die politische Diskussion in Österreich mitverfolgt hat, könnte meinen, es gäbe nach dem Umsturz in Afghanistan und all seinen weltpolitischen Konsequenzen nur einen einzigen Aspekt, der es wert wäre, von der heimischen Bevölkerung wieder und wieder durchgekaut zu werden: Wie viele Afghanen kommen jetzt ins Land?

Die ÖVP will nahe null, eher ein Minus, also abschieben. Die Grünen blieben erst still, rafften sich dann aber doch auf, auf ihre Wählerbasis zu achten, und sprechen sich da und dort dafür aus, afghanische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Wiener SPÖ möchte Afghanen ins Land holen, die FPÖ natürlich nicht, die Neos fallen kaum auf. Aber ist das wirklich alles?

Ein Gedankenexperiment: Was, wenn wie durch ein Wunder ab jetzt gar keine Afghanen nach Österreich kommen würden? Sei es, weil wir sie nicht lassen oder weil sie gar nicht wollen. Und nehmen wir an, auch die bereits im Land befindlichen 44.000 Afghanen wären auf einmal weg – wenn schon nicht aus dem Land, dann zumindest aus dem öffentlichen Blickfeld.

Kurz: Was würde der Umsturz in Afghanistan für Österreich bedeuten, wenn er nicht mehr durch das Brennglas Flucht und Migration betrachtet werden könnte?

Dass sich europäische Politiker mit etwas anderem als Migration beschäftigen können, zeigt ein Blick über die Grenzen.
In Deutschland leidet das Selbstbewusstsein: Von Kanzlerin Angela Merkel abwärts herrscht Ernüchterung über die schmerzhaft offengelegte Abhängigkeit von den USA. Ohne deren Militärmaschine hätten die Europäer den Abzug aus Kabul nicht geschafft, gab sie zu.
Das Thema hat den Wahlkampf erreicht. „Wir müssen einen Flughafen wie Kabul auch allein sichern können“, sagte CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet vor Kurzem. FDP-Chef Christian Lindner bezeichnete die militärische Abhängigkeit von den USA in der „Presse am Sonntag“ als „verstörend“. Auf die Frage, ob Deutschland seiner Größe gerecht werde, sagte er: „Gegenwärtig nicht.“

Auch in Großbritannien: Katerstimmung. „Der Fall von Kabul, wie Suez, hat gezeigt, dass das Vereinigte Königreich nicht in der Lage sein könnte, autonom und ohne US-Involvierung zu operieren“, sagte der konservative Parlamentsabgeordnete James Sunderland.
Mit dem kurzen Querverweis auf die britische Niederlage am Suezkanal verknüpfte der ehemalige Offizier der British Army den Abzug aus Afghanistan mit einem historischen Trauma: Im Herbst 1956 hatten die Briten versucht, den Suezkanal wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, nachdem die ägyptische Regierung unter Gamal Abdel Nasser ihn nationalisiert hatte. Die Briten verloren nicht nur einen der strategisch wichtigsten Punkte der Welt, ihnen wurde vor Augen geführt, dass die Zeiten des Empire vorbei sind.

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