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Slash-Filmfestival: Diese Filme treiben die Evolution voran

Agathe Rousselle in "Titane" von Julia Ducournau.
Agathe Rousselle in "Titane" von Julia Ducournau.(c) Wild Bunch
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Das Wiener Slash-Filmfest eröffnet erstmals mit einem Cannes-Gewinner: Julia Ducournaus „Titane“ zelebriert Sex mit einem Cadillac und wirbelt bildgewaltig Rollenbilder durcheinander – im Namen aller Monster und Mutanten.

Lang lebe das neue Fleisch! So lauten die letzten Worte der von James Woods gespielten Hauptfigur aus David Cronenbergs 1980er-Kultfilm „Videodrome“, bevor sich diese mit einer Pistole, die cyborghaft mit ihrer Hand verwachsen ist, eine Kugel durch den Kopf jagt. Was wie Horror klingt, ist als offenes Filmende ambivalent gemeint: Der Tod des alten Körpers stellt bei Cronenberg tatsächlich die Möglichkeit einer Wiedergeburt in den Raum, die Verheißung einer neuen Lebensform, die den Anfechtungen einer technologisch durchwirkten Gegenwart besser gewachsen ist als alle bisherigen.

Cronenbergs Vision einer evolutionären Verschmelzung von Mensch und (Video-)Medium („Fernsehen ist Realität!“) wirkt heute beinahe naiv: Wie viel weiter sind wir, wohl oder übel, im Zeitalter von Smartphone, Internet und Instagram! Doch die Idee, dass ungeahnte Herausforderungen auch ein „neues Fleisch“ befördern und benötigen, ist aktuell wie eh und je. Dabei geht es nicht um einen „Neuen Menschen“, wie der Sowjetkommunismus und der Nationalsozialismus ihn als eierlegende Wollmilchsau oder Herrenrassentriumph herbeifantasierten. Sondern um das menschliche Vermögen, sich zu verändern, sich neuen Bedingungen anzupassen, unbetretene Pfade zu finden und zu erkunden.

Im Inferno der Genderidentitäten

Ausgerechnet die durch und durch ihrer eigenen Tradition verhafteten Filmfestspiele von Cannes wagten heuer einen beachtlichen Schritt in Richtung eines neuen Kunstkino-Organismus – mit der Auszeichnung von Julia Ducournaus phantasmagorischem Düsterdrama „Titane“, das die Cronenberg'sche Körperhorror-Ästhetik auf zeitgenössische Gender- und Identitätsdiskurse überträgt. Und seinem Publikum lieber Genre–Schauer beschert, als es mit Sozialrealismus zu belehren. Nur gerecht, dass „Titane“ in Österreich nicht – wie man bei einem Cannes-Sieger vermuten könnte – bei der Viennale Premiere feiert, sondern beim Slash-Filmfestival: Die Wiener Institution des „fantastischen Films“ eröffnet heute seine 12. Ausgabe mit Ducournaus bildgewaltigem Werk.

Passend zum auf irrlichternde Leinwand-Unikate abonnierten Festival lässt sich „Titane“ in keine Schublade zwängen, wechselt bis zum kathartischen Finale immer wieder die Register. Am Steuer: die junge Alexia (verbissen intensiv: Agathe Rousselle), die als Kind in einen Autounfall verwickelt war. Seither trägt sie eine Titanplatte im Schädel – und fühlt sich heißen Öfen leiblich zugetan. Bei Autoshows räkelt sie sich auf Motorhauben, übergriffige Zuschauer werden mittels Haarnadel eiskalt abserviert. Lieber vergnügt sie sich mit einem Cadillac, der beim Liebesakt wackelt wie ein Lowrider in einem Hip-Hop-Video.

Als die Polizei auf Alexias Umtriebe aufmerksam wird, flüchtet sie mit abgeschnürter Brust und geschorenem Haar in die Obhut eines Ausbunds von (alternder) Männlichkeit (Vincent Lindon): ein Feuerwehr-Brigadier, der seinen verlorenen Sohn in ihr zu erkennen glaubt und die Außenseiterin in seinen Bubentrupp eingliedern will. Doch in dieser reift bereits neues Leben heran. Die 37-jährige Französin Ducournau hat schon mit ihrem Debüt „Raw“ ein Talent für die Auslotung von Extremen bewiesen. Ihr Zweitling entfacht ein Breitwandinferno, in dem sämtliche Rollenbilder aus dem Leim gehen – und neu zusammengefügt werden.

Dass das Verhältnis des avancierten Kunstfilms mit dem Unheimlichen und Fantastischen längst keine Affäre mehr ist, sondern eine fruchtbare Liaison, davon zeugt auch der heurige Slash-Abschlussfilm „Lamb“. Darin adoptiert ein isländisches Schafzüchterpaar (Noomi Rapace und Hilmir Snær Gudnason) das Lämmchen eines ihrer Nutztiere: ein Unterfangen, dessen Fantasy-Element sich im von Valdimar Johannsson mit gemessener Subtilität inszenierten Film erst nach und nach herausschält. Die Beziehung des Menschen zu Fauna und Natur ist hier zugleich Prüfstein und Hoffnungsanker.

Letzteres in Form einer Hybridisierung, die auch anderswo im Slash-Programm um sich greift: Etwa im US-Animationsfilm „Cryptozoo“, in dem es von anthropomorphen Fabelwesen wimmelt. Oder im japanischen Schwarz-Weiß-Kleinod „Extraneous Matter“, in dem eine junge Selbstständige ein schleimiges Tentakelmonster in ihrem Schrank entdeckt. Ein Schock, der sich als Glück entpuppt, weil es ihr dabei hilft, der drögen Alltagsödnis zu entfliehen. Jedenfalls besser als die falschen Oberflächenreize, denen eine Fischhändlerin in Uldus Bakhtiozinas „Tzarevna Scaling“ verfällt: Ein Zaubertee verwandelt die Russin in eine Prinzessin, deren Glitzerkostüme nicht aufwiegen, was sie versprechen. Auf „neues Fleisch“ im alten Gewand sollte man besser verzichten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2021)

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