Fall Natascha Kampusch: Entführung mit (zu) vielen Geheimnissen

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Im Entführungsfall Kampusch liegen polizeiliche Ermittlungsansätze vor, denen nicht richtig nachgegangen wurde. Etwaige Versäumnisse der Wiener Anklagebehörden werden von der Staatsanwaltschaft Innsbruck untersucht.

»»Priklopil war zu mir (. . .) sehr nett.««

W., die Schwester von Ernst H.

Am 8. Jänner dieses Jahres gab der Leiter der Oberstaatsanwaltschaft Wien, Werner Pleischl, eine international beachtete Erklärung ab: „Die Mehrtätertheorie ist auszuschließen.“ Mit diesen Worten wurde im Entführungsfall um Natascha Kampusch das Ende der Ermittlungen besiegelt. Wolfgang Priklopil, der Entführer, der sich nach der Flucht des Opfers aus achteinhalbjähriger Gefangenschaft am 23. August 2006 das Leben nahm, habe alles alleine geplant und ausgeführt. Tatsächlich? Material, das der „Presse“ vorliegt, bringt nun die offizielle Darstellung des Falles ins Wanken.

Da ist Ernst H. (46), Elektromechaniker, einst Freund und Geschäftspartner von Priklopil. Die beiden arbeiteten in einer eigenen Baugesellschaft, renovierten Wohnungen. H. ist jener Mann, der vor der Polizei (jedoch erst in einer zweiten Version) angab, Priklopil habe nach der Flucht des Opfers bei ihm Zuflucht gesucht. Stundenlang seien sie im Auto herumgefahren. Auch sei er (laut einer – später wieder geänderten – Aussage vom 26. 8. 2006) mit seinem Freund nahe jenen Bahnschienen, auf denen man später Priklopils Leiche fand, „ein wenig spazieren gegangen“. Ein gegen H. geführtes Strafverfahren wegen Beteiligung an der Freiheitsentziehung (begangen an Kampusch) wurde eingestellt. In einem Prozess wegen Begünstigung (Priklopil als mutmaßlicher Begünstigter) wurde H. freigesprochen. Ungereimtheiten blieben aber bestehen.

E-Mail ans Innenministerium. Das beklagte der Leiter der polizeilichen Sonderkommission, Oberst Franz Kröll. Ihm fehlte der Rückhalt der Wiener Anklagebehörden. Letzteren oblag immerhin die Leitung der Ermittlungen. Am 16. Dezember 2009 sandte Kröll resignierend ein vertrauliches E-Mail an das Innenressort. Darin schrieb er, es sei ihm „unmissverständlich nahegelegt“ worden, die Akte Kampusch zu schließen. Im Juni dieses Jahres nahm sich Kröll durch einen Schuss aus einer Dienstpistole das Leben. Sein Bruder Karl Kröll glaubt nicht an Selbstmord.




Angaben von Ernst H., aber auch solche von Natascha Kampusch, schreien förmlich nach Klärung. Auch die Rolle der Schwester von Ernst H., der Juristin W. (50), ist bemerkenswert. Die Frau gab am 27. September 2006 vor dem Landespolizeikommando Burgenland an: „Ich kenne Priklopil seit 1996. Er hat mit meinem Bruder eine Wohnung für mich hergerichtet.“ Nach Priklopils Tod ließ sich W. von dessen Mutter für den Verkauf von zwei Wohnungen (15. und 16. Bezirk) aus der Verlassenschaft des Verstorbenen bevollmächtigen. Der Käufer war ihr Bruder, Ernst H. Der Kaufpreis? H. behauptete letztlich, Priklopil habe bei ihm Schulden gemacht, stellte eine Gegenrechnung an – und schon galten die Wohnungen als bezahlt. Korrekte Dokumente über Schulden Priklopils liegen nicht vor. Im Gegenteil: H. hatte ursprünglich auf Befragen der Mutter von Priklopil verneint, dass der Verstorbene Schulden hinterlassen habe.

» »Glaubst du auch, hat mich der H. vorher gekannt?««

Natascha Kampusch

» »Ich bin sicher, dass in dem Bus zwei Personen gesessen sind.««

Zeugin A.




Weiters übertrug Priklopils Mutter ihre Wohnung im 19. Bezirk an H. Der Mutter selbst blieb nur das Wohnrecht. Abgewickelt wurde die Transaktion von H.s Schwester W. Der ehemalige Präsident des Obersten Gerichtshofes, Johann Rzeszut, zuletzt Mitglied der Evaluierungskommission „Kampusch“, nennt W. in einem aufrüttelnden Brief an das Parlament „atypisch umtriebig“. Übrigens: Jene Presseerklärung, die H. kurz nach der Flucht von Kampusch verlas, stammte maßgeblich von Schwester W. Vor der Polizei sagte H.: „Diese Presseerklärung wurde von mir und meiner Schwester (. . .) gemeinsam verfasst.“ Die Erklärung enthält das Märchen, dass Priklopil am 23. 8. 2006 nur deshalb bei H. im Auto Zuflucht gesucht habe, weil er alkoholisiert der Polizei davongerast sei.

Telefonate mit Kampusch. H. erklärt, Priklopil habe ihm im Juni 2006 ein Mädchen vorgestellt. Erst als Kampusch freikam (August), habe er rückblickend erkannt, dass ihm damals das Opfer vorgestellt worden war. Nach der Flucht führten Kampusch und H. „zirka 100 Gespräche“ (Aussage H.). Am Telefon. H. vor der Soko: „Wir haben uns aber nie mit dem Vor- oder Familiennamen angesprochen, weil Natascha befürchtete, dass diese Gespräche abgehört wurden.“ – „Sie erzählte, dass sie mit Wolfgang Priklopil Außeneinsätze machte. (. . .) Sie hat mir erzählt, sie sei öfters in der Hollergasse (eine von Priklopils Wohnungen, Anm.) gewesen, hatte dort immer gemeinsam mit Wolfgang Priklopil Malerarbeiten und sonstige Arbeiten durchgeführt, auch Fenster eingebaut, sie war auf jeden Fall öfters dort.“ Kampusch habe auch berichtet, dass sie immer versprechen musste, nicht zu flüchten.



Was wusste H. schon vor der Flucht? Das interessierte auch Kampusch. Laut Polizei fragte sie eine ihr „gut bekannte Person“: „Glaubst du auch, hat mich der H. vorher gekannt und hat er gewusst, dass ich da bin?“ H. geht vorsichtshalber auf Distanz. Auf die Polizeifrage: „Sie haben (. . .) angegeben, dass Natascha Kampusch Sie belasten könnte (. . .), erklären Sie diese Aussagen näher“ antwortete H.: „Das kann ich nicht erklären. Es ist immer ein Restrisiko dabei. Es könnte immer passieren, dass mich Natascha Kampusch zu Unrecht belasten könnte.“ An anderer Stelle gibt H. zu Protokoll: „Ich schätze die Frau Kampusch als unberechenbar ein.“ Selbstverständlich gilt sowohl für H. als auch für dessen Schwester die Unschuldsvermutung.

Dann gibt es noch jene Zeugin, A., die in sechs Einvernahmen klar angegeben hat, bei der Entführung am 2. März 1998 zwei Männer gesehen zu haben. Einer sei am Steuer des Kastenwagens gesessen, der andere habe das Opfer ins Fahrzeug gezerrt. Kampusch spricht bekanntlich von einem Täter. Zeugin A. sei am 3. Dezember 2009 im Rahmen einer der Polizei aufgetragenen „Inszenierung“ einer „suggestiven Umpolung“ unterlegen. Das sagt Ex-OGH-Präsident Rzeszut nach Studium der Akten. In Anwesenheit von Natascha Kampusch zog Zeugin A. damals ihre Wahrnehmung eines zweiten Täters zurück. Von der Justiz wurde A. bis heute nicht vernommen.



Interessant ist auch jener Zettel mit dem handschriftlichen Wort „Mama“, das laut H. von Priklopil kurz vor dessen Tod geschrieben worden sei – als Beginn eines Abschiedsbriefes an die Mutter. Das Bundeskriminalamt fand bei einer „detaillierten schriftvergleichenden Gegenüberstellung zwischen den Vergleichsschriften (Priklopil) und dem fraglichen Schriftzug ,Mama‘ keine nennenswerten grafischen Übereinstimmungen“. „Demgegenüber gleicht die verbundene Schreibweise (. . .) den Vergleichsschriften des H.“

Nun ist Innsbruck am Zug.
Die dortige Staatsanwaltschaft prüft, ob den Wiener Anklagebehörden Versäumnisse vorzuwerfen sind. Um dies zu klären, müssen auch die Kampusch-Ermittlungen neu kontrolliert werden.

Einmal wurde H. von Oberst Kröll gefragt: „Welche Erklärung haben Sie zur Aussage von Natascha Kampusch, dass Sie ärger als Wolfgang Priklopil gewesen wären?“ Antwort: „Dazu habe ich keine Erklärung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24. 10. 2010)

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