Analphabeten: Leben mit einem Geheimnis

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Erwachsenenbildung: Trotz Schulpflicht gibt es in Österreich rund 600.000 Analphabeten – darunter auch viele Jugendliche. Das Thema ist nach wie vor ein Tabu, die Scham der Betroffenen groß.

Operation. Wie schreibt man das bloß? Hanni grübelt, knetet dabei ihre Hände. Bei manchen Wörtern kommt sie noch ins Schwitzen. Schließlich klappt es doch. Sie lächelt.

Hanni ist eine rundliche Frau, 58 Jahre alt. In einem Kurs in der VHS Floridsdorf lernt sie, was für Menschen ihres Alters eigentlich selbstverständlich sein sollte: lesen und schreiben. Hanni ist nicht allein. In Österreich leben mindestens 600.000 Analphabeten. Viele von ihnen haben ihre Schulpflicht erfüllt, kennen viele Buchstaben, können einzelne Wörter oder Sätze schreiben. Mehr nicht. Für sie ist jedes Straßenschild eine Herausforderung, jeder Behördengang ein Spießrutenlauf. Die wenigsten gehen damit so offen um wie Hanni.

„Kaum jemand weiß von meinem Problem – und ich möchte auch, dass das so bleibt“, sagt Ingrid, die ebenfalls im Floridsdorfer Kurs sitzt und ihren echten Namen nicht nennen will. Beinahe ihr ganzes Leben hat die fünffache Mutter mit einem Geheimnis gelebt, hat es gegenüber Kollegen, Freunden und Familie gehütet.

Zu groß war die Angst vor Unverständnis oder Spott. Der Lebenslauf der 38-Jährigen ähnelt jenem vieler Analphabeten: Ingrid wächst mit vier Geschwistern auf. Die Eltern arbeiten viel, um die Familie durchzubringen. Die schüchterne Ingrid landet in der Sonderschule. Ihre Lehrerin ist nachsichtig, vielleicht zu sehr. Lesen und schreiben lernt sie nie richtig. „Als ich mit der Schule fertig war, war da gar nichts.“

Auf der Suche nach Ausreden

Sie schlägt sich dennoch durch. „Wenn die Leute einen Job finden, dann meist einen schlecht bezahlten“, sagt Astrid Klopf-Kellerer, die die VHS-Kurse koordiniert. Doch das Angebot an Jobs wird immer kleiner. Mit der Informationsgesellschaft steigen die Anforderungen. Ingrid geht putzen, „das Einzige, was ich mich getraut habe“. Steht ein Job mit mehr Verantwortung im Raum, kündigt sie. Wollen die Kinder eine Gutenachtgeschichte hören, dann schützt sie Kopfschmerzen vor. Soll sie einen Personalbogen ausfüllen, dann simuliert sie Schwindel und bringt den Bogen am nächsten Tag. Davon kann auch Hanni ein Lied singen. „Am Amt habe ich immer gesagt, ich hätte meine Brille vergessen“, erzählt sie. Briefe liest ihr Mann für sie. Bis Hanni eines Tages beim AMS steht. „Hier habe ich gesehen: Ich bin nicht die Einzige.“

Heute schreibt Hanni kurze Geschichten am Laptop, manche Wörter schlägt sie im Duden nach, der neben ihr liegt. Angefangen hat sie wie Ingrid, die ihre mit säuberlicher Schrift vollgeschriebenen Schulhefte durchblättert, in denen sie einzelne Wörter geübt hat. Gerade radiert sie an einem kurzen Text herum: Ein Leserbrief soll es werden, zum Thema Hunde.

Wie viele Analphabeten es in Österreich genau gibt, weiß niemand. Eine OECD-Studie soll erst 2013 Ergebnisse bringen. Das EU-Parlament geht davon aus, dass zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung in den EU-15 Analphabeten sind. Für Österreich wären das bis zu 1,6 Millionen Menschen. „Alles unter 600.000 ist nicht realistisch“, sagt Otto Rath, Koordinator des Netzwerks Alphabetisierung und Basisbildung. Darunter auch viele junge Menschen, wie die PISA-Studie belegt: Jeder fünfte 15-Jährige kann den Sinn von Texten nur schwer erfassen.

Das Wort „Analphabet“ nimmt Rath ungern in den Mund. Zu viele Vorurteile schwingen mit. „Da taucht ein Bild von dummen, zurückgebliebenen Menschen auf.“ Dabei sei das Problem kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches. Kinder aus sozial schwachen, bildungsfernen Familien kommen oft mit schlechten Voraussetzungen in die Schule. Dort fehlt es an individueller Förderung. In einem System, das nicht auf Kompensation ausgerichtet ist, laufen sie Gefahr, in der ersten, zweiten Klasse den Anschluss zu verlieren. Danach werden sie mitgeschleppt.

„Du kannst nichts, du bist nichts“

Rath wünscht sich, dass das Thema kein Tabu bleibt. Die Möglichkeit zu lernen, gibt es: Für 1400 Betroffene haben Unterrichtsministerium und Europäischer Sozialfonds 2009 Kurse finanziert. Für Menschen wie Hanni oder Ingrid eröffnet das nicht nur Chancen am Arbeitsmarkt. Sie gewinnen hier auch ihr Selbstvertrauen zurück. „Früher habe ich so oft gehört: Du kannst nichts, du bist nichts“, erzählt Ingrid. „Das sagt heute keiner mehr.“

Kursangebote

Basisbildungskurse bieten in Wien die VHS in Meidling und Floridsdorf an. Sie richten sich an Personen mit guten Deutschkenntnissen. Die Standorte Ottakring, Brigittenau, Rudolfsheim und Favoriten sind auf Migranten spezialisiert. Infos über Kurse in ganz Österreich gibt es am „Alfa-Telefon“ unter 0810/200810.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2010)

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