Leitartikel

Europa ist reif für eine neue Ära nach 16 Jahren Merkelismus

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BELGIUM-EU-POLITICS-SUMMITAPA/AFP/POOL/YVES HERMAN
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Die scheidende Kanzlerin hat mit ihrer Maxime der Konfliktvermeidung die EU zusammengehalten. Das ist aber zugleich Ursache ihrer Probleme.

Vieles wurde in den jüngsten Wochen über die Ära Angela Merkels geschrieben, in einer Hinsicht überschnitten sich die meisten dieser Porträts der deutschen Bundeskanzlerin: Ihre Maxime ist das Vermeiden oder Entschärfen von Konflikten, wo es nur ging, betrieb sie die Entpolitisierung politischen Konflikts. Ob China, Russland, Klimapolitik, Arabischer Frühling, Ukraine, Migration, Eurokrise: Stets sorgte die Kanzlerin dafür, dass auf EU-Gipfeln keine revolutionären Zeitenwenden eingeläutet wurden. Das hat ihr, und nicht zu Unrecht, den Nimbus als bisweilen einzige „Erwachsene“ im Sitzungssaal eingebracht. Nüchternheit und Augenmaß sind Kardinaltugenden jedes Politikers. Und man wird es ihr stets hoch anrechnen müssen, sich gegen ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble durchgesetzt und den Rauswurf Griechenlands aus der Währungsunion verhindert zu haben. Denn das wäre der Anfang vom Ende des Euro und somit wohl auch der Union im Ganzen gewesen.

Bloß ist keines der Probleme gelöst. Wenn Merkel beispielsweise am Donnerstag bei ihrer Ankunft in Brüssel beklagte, dass die EU an der Reform der Migrations- und Asylpolitik scheitere, dann musste sie streng genommen sich selbst in die Pflicht nehmen. Wer war denn 16 Jahre lang Kanzlerin des größten und reichsten Mitgliedstaats – der zugleich auch das Ziel Nummer eins irregulärer Migranten aus aller Welt war? „Almania, Almania“, brüllten dieser Tage erneut wütende junge Männer aus dem Orient im Niemandsland zwischen Polen und Belarus, die versuchten, den polnischen Grenzzaun niederzureißen. Klar: Sie wollen nicht nach Bydgoszcz, sondern nach Berlin. Oder Stichwort Energiekrise: Hat uns die deutsche Regierung nicht jahrelang salbungsvoll erklärt, die Erdgaspipeline Nord Stream 2 sei kein politisches Projekt Russlands, um Europa von seinen Gaslieferungen noch abhängiger zu machen als bisher? Dieser Tage ließ der Kreml verlauten, er sei natürlich bereit, Europa über den kalten Winter zu helfen – aber nur, wenn Nord Stream 2 die unbeschränkte Betriebserlaubnis erhält. Wie nennt man so etwas, wenn nicht einen Erpressungsversuch Wladimir Putins?

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