Wort der Woche

„Geschlechterarchäologie“

Wie lebten Männer und Frauen in der Steinzeit zusammen? Die Antworten der Geschlechterarchäologie haben weitreichende Folgen für unser heutiges Verständnis von Rollenbildern.

In unseren Köpfen herrscht ein klares Bild, wie unsere Vorfahren gelebt haben: Die Männer gingen auf die Jagd und bauten Werkzeuge, die Frauen kümmerten sich um Nahrung und den Nachwuchs. Mit Verweis auf biologische Gegebenheiten (Gebären, Körperbau etc.) wird diese Aufgabenverteilung vielfach als „natürlicher Urzustand“ der Menschheit angesehen. Dagegen regt sich seit einiger Zeit Widerstand – angefacht von feministischen Vordenkerinnen und der Entwicklung einer „Geschlechterarchäologie“, deren bisherige Ergebnisse das herkömmliche Bild wanken lassen.

Moderne Untersuchungsmethoden ermöglichen tiefe Einblicke in das Zusammenleben der Menschen in Urzeiten. So ermöglicht die Analyse bestimmter Peptide im Zahnschmelz eine exakte Geschlechtsbestimmung auch von jungen Menschen; Strontium-Isotope erlauben Aussagen über die Ernährung und die Herkunft von Individuen; die Analyse von DNA in Knochen kann Verwandtschaftsbeziehungen in Grabanlagen enträtseln.

Solche Untersuchungen zeigen, dass es einst viele verschiedene Formen des Zusammenlebens gab. „Die prähistorischen Kulturen und Gesellschaften waren weitaus komplexer und stärker diversifiziert, als man noch vor Kurzem glaubte“, schreibt die Archäologin Marylène Patou-Mathis in ihrem eben auf Deutsch erschienenen Buch „Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann“ (286 Seiten, Hanser, 24,70 Euro). In ihrem umfassenden Streifzug durch archäologische Spuren der Urgeschichte – von Höhlenmalereien über Kriegergräber bis hin zu Venusfiguren – findet sie keine Belege für die These, dass Frauen im Paläolithikum einen niedrigeren sozialen Status gehabt hätten als Männer. Aber auch umgekehrt gibt es keinerlei Beweise für ein von manchen postuliertes Matriarchat. Als gesichert gilt indes, dass sich die Geschlechterrollen im Laufe der Zeit verändert haben.

Stellt sich die Frage, warum das Bild der traditionellen Geschlechterrollen überhaupt entstehen konnte? Die Antwort ist recht klar: Die Wissenschaft war lange Zeit eine reine Männerwelt, die sich mit (Männer-)Themen ihrer Zeit befasste und diese auch in die Urgeschichte hineinprojizierte. Oder wie es Patou-Mathis ausdrückt: Die Interpretation der archäologischen Funde sei über eineinhalb Jahrhunderte von einer Ideologie geprägt worden, die Frauen abwertete. Die Tür für eine Neu-Interpretation sei nun „aufgestoßen und wird sich erst schließen, wenn die Frau ihren rechtmäßigen Platz in der Geschichte gefunden hat“.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.01.2022)

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