Bartrasur: Kampf der Klingen

(c) Michaela Bruckberger
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Warum rasiert sich ein Chinese anders als ein Inder? Wie gelingt eine Rasur am besten? Die Rasur des Bartes ist ein Milliardengeschäft. Gillette erforscht den täglichen Kampf gegen die Stoppel mit enormen Summen.

Das Prinzip ist seit tausenden Jahren klar: Scharfe Kante – erst aus Steinen oder Muscheln, mittlerweile sind es Stahlklingen – trifft auf Haarstoppel, schneidet diesen knapp an der Haut ab. Der Bart ist weg, fertig die Rasur. Was soll man da schon groß neu erfinden? Das dachte sich Graham Simms, als er für Gillette arbeiten sollte. Damals forschte der lebhafte Wissenschaftler mit dem verschmitzten Grinsen für den Rüstungskonzern British Aerospace und erfand Navigationssysteme für Raketen oder Flieger.

So langweilig es klingt – seit 20 Jahren befasst er sich tagein, tagaus mit nichts anderem als der Frage, wie man das alte Prinzip der Rasur zumindest ein bisschen neu erfinden könnte. Damit ist er nicht allein. Hunderte Menschen – wie viele es genau sind, ist eines der vielen Geheimnisse von Gillette – forschen im britischen Städtchen Reading im Innovationszentrum von Gillette an neuen Rasierern. Die Arbeit hinter den roten Backsteinmauern im „Silicon Valley“ Großbritanniens läuft auf Hochtouren, der Kampf um die beste Klinge flammt auf. Gillette und Wilkinson bringen neue Modelle auf den Markt.


Forschungsobjekt Gesicht
. So einfach, wie sie aussieht, so kompliziert ist die Rasur. „Es ist leichter, einmal im Jahr ein Kind zu bekommen, als sich jeden Tag rasieren zu müssen“, sagt ein russisches Sprichwort. „Rasieren ist die einzige Sache, die Männer täglich tun, aber nie gezeigt bekommen“, meint Simms. Jeder Mann glaubt wohl, er rasiere sich so, wie der Rest der Männerwelt. Weit gefehlt. Haarstruktur, Haardichte, Wuchsrichtung, Wirbel, Haut, Handgröße, Geschwindigkeit, Druck – keine Rasur gleicht der anderen.

„Es gibt Männer, die rasieren sich in 30 Strichen, bei einem Probanden wurden schon 750 Striche gezählt. Der Druck auf die Haut reicht von 50 Gramm bis 1,5 Kilo“, erzählt Kristina Vanoosthuyze, Forscherin bei Gillette. Im Schnitt rasieren sich Männer in 200 Strichen und drücken mit 200 Gramm gegen ihre Wangen. Um die Rasur immer genauer kennenzulernen, kommen jeden Tag 90 Männer aus Reading zu Gillette, um sich dort zu rasieren.

Sie stehen in Kabinen mit Spiegeln, durch die sie von Forschern beobachtet werden können. Zwei Kameras filmen aus verschiedenen Perspektiven. Es ist ein Hochrisiko-Unterfangen, Fremde an die neuen Klingen zu lassen. Am Tor zum Gelände identifiziert sich jeder Proband mit einem persönlichen Code. Passt das Gesicht, das dann auf einem Monitor erscheint, zu dem unrasierten Gast, darf er zur Rasur schreiten.

Manche kommen seit 20 Jahren jeden Morgen. Geld bekommen sie dafür nicht. Aber sie seien stolz, mitzubestimmen, wie sich Millionen Männer in Zukunft rasieren würden, heißt es. Auch die Mitarbeiter kommen mit stoppeligen Gesichtern – soll was wertvolle Gut Rasur doch nicht unerforscht zu Hause passieren. Ein Gebäude weiter sitzen Mitarbeiterinnen, die unendliche Stunden damit zubringen, Videos auszuwerten. Sie zählen die Striche, die ihr Kollege braucht. Oder zeichnen auf, wie jemand seine Haut spannt.


Inder rasieren anders. Graham Simms hat die halbe Welt bereist, um Männern beim Rasieren zuzuschauen. Etwa 70 Prozent aller Männer weltweit, die sich nass rasieren, nutzen ein Produkt von Gillette, etwas mehr als 20 Prozent greifen zu jenen von Wilkinson. „In Indien sitzen Männer mit einer Schale Wasser auf dem Boden oder auf der Straße und rasieren sich. Ohne Bad, ohne fließendes Wasser“, erzählt Simms. Auf dem Rückflug aus Indien hatte er die zündende Idee: Ein Einwegrasierer mit nur einer Klinge, der auch bei längerem Haar nicht verstopft.

Die Gewohnheiten sind von Land zu Land verschieden: In Westeuropa und den USA rasieren sich 70 Prozent der Männer nass. In China etwa greifen mehr Männer zu Elektrorasierern. „Dort leben viele Burschen in Internaten, wenn sie anfangen, sich zu rasieren. Weil es oft zu wenige Waschbecken gibt, rasieren sie sich trocken und bleiben dabei“, erzählt Vanoosthuyze.

Die Suche nach der perfekten Rasur begann bei Gillette um 1900. King Champ Gillette war lange Jahre als Handelsreisender in den USA unterwegs, bis er im Alter von 40 Jahren eines Morgens bei der Rasur die zündende Idee hatte: Ein Rasierer mit einer Klinge, die man nie wieder schleifen muss. Ein dünnes Stück Stahl, auf beiden Seiten geschliffen, das man einmal auf dem Rasierhobel wenden konnte und dann weg warf. 1901 gründete er The Gillette Company, 1903 startete die Produktion. In diesem Jahr wurden 168 Klingen verkauft, 1904 waren es schon 90.000 Rasierer und 123.000 Klingen. Heute ist Gillette Weltmarktführer und gehört seit 2005 dem Konsumgüterriesen Procter & Gamble.


System à la Kaffeemaschine.
In Reading nutzen die Forscher Highspeed-Kameras oder neueste 3-D-Technik, mit der man in Hollywood 3-D-Filme dreht, um die Rasur zu erforschen. Bis ins kleinste Detail analysiert man Haarstummel, die in der Vergrößerung zu Baumstümpfen werden und Haut in ihrer gallertartigen Konsistenz, die das Mikroskop offenbart. Ein gepflegtes Gesicht wird dort zu einer Wildnis.

Was bringt es, diese bis ins letzte Detail zu erforschen? Gillette sucht nach winzigen Schwachstellen, kleinen Feinheiten, um das banale Prinzip der Rasur um Nuancen besser zu machen.

Der Innovationsdruck, dem sich die Riesen der Rasur unterworfen haben, ist enorm. Schließlich geht es um viel Geld – der Weltmarkt für Nassrasierer ist etwa 15 Mrd. Dollar schwer. Der Umsatz von Gillette (noch eines dieser vielen Geheimnisse) wurde vor wenigen Jahren auf gut zehn Mrd. Dollar geschätzt. In Deutschland – Zahlen für Österreich liegen nicht vor – wuchs der Umsatz im vergangenen Jahr um knapp acht Prozent. Hat sich ein Mann erst für ein Modell entschieden, bleibt er über Jahre treu. Das Geschäft funktioniert wie bei Kapsel-Kaffeemaschinen oder Druckern und Patronen: Der Rasierer ist recht billig, oft gibt es ihn als Lockangebot. Aber nur ein Typ Klingen passt darauf, und die sind teuer: Ein Scherkopf kostet drei bis vier Euro, er hält etwa einen Monat. In der Produktion kostet ein Kopf angeblich keine zehn Cent. Bei so einer Gewinnspanne zahlt es sich aus, dreistellige Millionenbeträge in die Entwicklung eines neuen Rasierers zu stecken. Ähnliche Summen fließen in weltumspannende Werbekampagnen.

Es sind Feinheiten, die noch neu sind. Wilkinson stellte jüngst den Rasierer „Hydro“ vor: Der hat zum Beispiel ein Gel-Reservoir im Rasierkopf. Oder „Skin Guards“, die die Kontaktpunkte zur Haut verdoppeln sollen. Die Aufzählung aller, glaubt man der Werbeabteilung, bahnbrechenden Innovationen wäre lange, stolze 90 Patente schützen die Technologie.

Vier, fünf oder sechs Klingen?
Klar ist: Es geht darum, der erste zu sein, den stärkeren Namen zu finden, das bessere Image zu kreieren. Wie sich eine Vierklingen- von einer Fünfklingen-Rasur unterscheidet, zeigen wohl nur die Video-Mikroskope in Reading.

Der nächste Gillette-Rasierer „Fusion ProGlide“ hat, wie der aktuelle Marktführer „Fusion“ fünf Klingen, eine sechste, so erklärt man bei Gillette, würde nicht mehr viel bringen. Außerdem hat er einen „Präzisionstrimmer“ oder einen „Mikrokamm“, der die Haare vor den Klingen in Stellung bringen soll. „Unglaublicher Komfort“, „größte Innovation seit Jahren“, „Klingen, viel dünner als ein Skalpell“: Die Forscher sind kaum zu bremsen. Echte Innovationen sind rar. Aber das Prinzip, wer zuerst kommt, gewinnt, funktioniert. Als Wilkinson 1962 die erste Klinge aus rostfreiem Stahl auf den Markt brachte, brauchte Gillette Jahre, um den Vorsprung aufzuholen. Seit rund zehn Jahren hat das Tempo zugelegt, ein Rasierer nach dem anderen verspricht eine Revolution.


Wo steckt das Beste im Mann? Auch bei Rasierern für Frauen war Wilkinson eine Spur schneller: Der erste Rasierer, der zugleich schäumt und rasiert, Intuition, war lange Jahre Marktführer. Die Konkurrenz hat sich zu lange damit aufgehalten, an Rasierer für Männer bloß rosa oder lila Griffe zu stecken. Nun herrscht auch auf diesem Gebiet enormer Innovationsdruck. Auch bei Männern, schließlich schaben manche das Haar von allerlei Körperstellen ab, für die es noch keine eigenen Rasierer gibt. Daran wird mit Hochdruck geforscht. Denn, so sagt es der Slogan, es geht bei Rasierern schließlich um nicht weniger als das Beste im Mann. Seinen Bart? Glatte Haut? Oder doch nur sein Geld?

Bärte sind Milliarden wert: 15 Mrd. Dollar werden jährlich global für Nassrasierer und Klingen ausgegeben – etwa 70 Prozent gehen an Gillette, etwas mehr als 20 Prozent an Wilkinson.

Die Konkurrenten liefern sich seit Jahrzehnten einen scharfen Wettstreit. Sie stehen unter enormen Druck, neue Produkte auf den Markt zu bringen. Derzeit ist es wieder so weit.

Echte Innovationen sind rar, schließlich lässt sich das Prinzip der Rasur nicht neu erfinden. Es geht um winzige Feinheiten – und millionenschwere Werbebudgets.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2010)

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