Netflix

Er war nett zu Hitler, er lebe hoch?

Netflix
  • Drucken

War die Appeasement-Politik goldrichtig? Der Film „München“ versucht die Ehrenrettung des britischen Premiers Chamberlain – und vergrößert so den cineastischen Glorienschein über dem einstigen britischen Empire.

Das Wichtigste kommt ganz zum Schluss. Die brisante Neudeutung der Geschichte, versteckt als Abspann-Text zu den einschmeichelnden Klängen eines Abspann-Songs: „Die Frist, die durch das Abkommen von München erkauft wurde, ermöglichte es Großbritannien und seinen Verbündeten, sich auf den Krieg vorzubereiten, und das führte letztlich zu Deutschlands Niederlage.“

In der Schule haben wir es anders gelernt. „München!“ seufzen Geschichtsbewusste gern, wenn sie meinen, dass westliche Politiker zu nachgiebig gegenüber den Schurken von heute sind. Sie denken dabei an die Konferenz im September 1938, auf der Hitler den Sanctus erhielt, ins Sudetenland einzumarschieren.  Eingefädelt hatte sie der britische Premier Neville Chamberlain, der mit seiner Appeasement-Politik den kriegslüsternen Diktator immer übermütiger, stärker und gefährlicher machte – so lautet das gängige Narrativ.

Dagegen schrieb Bestsellerautor Robert Harris 2017 an. Er wollte Chamberlain rehabilitieren, verpackt in einen Agententhriller. Den hat der deutsche Regisseur Christian Schwochow jetzt opulent verfilmt. Ab Freitag ist „München – Im Angesicht des Krieges“ auf Netflix zu sehen.

Gerade in letzter Zeit gehen Historiker hart mit Chamberlain ins Gericht. Als „eitel, engstirnig, langweilig, undankbar, boshaft, stur, egoistisch, unsicher und dünnhäutig“ verdammte ihn Allan Allport 2020. Sollte das stimmen, ist Jeremy Irons eine kolossale Fehlbesetzung. Er gibt den friedliebenden Politiker als perfekten englischen Gentleman, nicht aus der Ruhe zu bringen, aber dabei hellwach, abgeklärt und weise.

Sein Kontrahent, Herr Hitler, ist ein in viel zu große Uniformen gepackter Ulrich Matthes, der fast so clownesk aussieht wie Charlie Chaplin im „Großen Diktator“, aber durch seinen einschüchternden Medusenblick auch das nötige dämonische Charisma ausstrahlt.

Zwei Spione wider Willen

Eine Etage tiefer ist die Fiktion zu Hause, hier wird die Geschichte lebendig. Im diplomatischen Tross treffen zwei frühere Freunde aufeinander, ein Engländer und ein Deutscher. Sie studierten zusammen in Oxford, entfremdeten sich aber, weil Paul (voller Verve: Jannis Niewöhner) von den Nazis begeistert war. Mittlerweile übersetzt er für den „Führer“, kämpft aber klammheimlich im Widerstand. Er will Hugh (von routinierter britischer Blässe: George MacKay) ein Protokoll aushändigen, das Hitlers Expansionspläne offenbart. Gemeinsam versuchen die ungeübten Spione, damit Chamberlain von der Unterschrift abzuhalten.

Frauen kommen nur am Rande vor, als vernachlässigte Gattin, Sekretärin oder einst geteilte Geliebte. Dafür bringt die Regie die deutsche und die englische Seite gleichberechtigt ins Bild, auch in zwei Originalsprachen, ein wenig wie bei François Ozons schönem Werk „Frantz“. Das hebt den Film dann doch ab von vielen anderen britischen Weltkriegs-Heldenepen, bei denen der Feind ausgeblendet bleibt. In Brexit-Zeiten ist das als Beitrag zur Völkerverständigung lobend zu erwähnen.

Wie auch die liebevoll, bis ins kleinste Detail ausgestalteten Straßen- und Bierhallenszenen, regelrechte historische Wimmelbilder. Fein kontrastiert sind die zeremoniösen, abgebrühten, banal scherzenden Diplomaten der älteren Garde mit den atemlosen Heißspornen, denen die Zeit davonläuft, um die Welt zu retten.

Auch wenn wir den Ausgang der großen, realen Geschichte kennen, sehen wir jenem der kleinen, fiktiven über zwei Stunden lang mit Spannung entgegen. „Fiebern“ wäre zu viel gesagt, dafür sind die Dialoge etwas zu schlicht und spröde geraten. Immerhin ist Paul in einem Moment sogar knapp davor, Hitler zu erschießen. Wenn der ihn nur nicht so durchdringend anglotzen würde!

Wie aber geht es nun mit Chamberlain weiter? Vielleicht bewirkt „München“ ja seine populäre Ehrenrettung. Auf jeden Fall hat das britische Kino nun auch den wenig heroischen, leicht peinlichen Vorabend des Krieges mit Glorie übergossen. Rule, Britannia! – wenigstens noch auf der Leinwand.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.