Morgenglosse

Tarkan und Erdoğan: Wer hat wen im Visier?

(c) Tarkan
  • Drucken

Der türkische Popstar hat ein neues Lied veröffentlicht, das prompt zu einem Politikum wurde. Seine Fans sehen in dem Stück einen Abgesang auf den derzeit strauchelnden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.

Zunächst sind Bilder vom emsigen Alltag Istanbuls zu sehen: Stockender Verkehr, geschäftiges Treiben, Leute in der U-Bahn, im Home Office, Kinder in der Schule, alle seufzen ob der Last des Werktages. Dann: Ein Hacker in einem dunklen Raum mit zahlreichen Computern. Er trägt die global anerkannte Hacker-Uniform, nämlich einen schwarzen Kapuzenpulli, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er arbeitet sich am Code ab und hackt sich schließlich in sämtliche Bildschirme der Stadt. Schnell stellt sich heraus: Es ist Tarkan. Und schon beginnt er zu singen.

Der deutsch-türkische Popstar hat am Wochenende sein Comeback gefeiert, wobei das Wort Comeback eine starke Untertreibung ist. „Geççek“ heißt sein neues Lied (umgangssprachlich für „Es wird vorbeigehen“); vergangenen Donnerstag ins Netz gestellt, konnte der Song – Stand Sonntag – 16 Millionen Aufrufe verzeichnen. Das liegt zum einen daran, dass Tarkan erstmals seit fünf Jahren wieder ein Lied geschrieben und produziert hat, zum anderen aber auch, weil „Geççek“ zu einem Politikum wurde. Seine Fans sehen in dem Stück einen Abgesang auf Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan.

„Symbol der nahen Zukunft"

Oppositionspolitiker wie die Parteichefin der nationalistischen IYI, Meral Akşener, twitterten das Lied mit eindeutigen Hinweisen („Es dauert nicht mehr lange“). Vertreter der regierenden AKP fragten sich öffentlich, ob das Lied von der Opposition in Auftrag gegeben worden sei. Medien, die dem Prediger und Erdoğan-Erzfeind Fethullah Gülen nahestehen, sehen in „Geççek“ ein „mögliches Symbol der nahen Zukunft“. Am Wochenende wurde um „Geççek“ eine ganze Wissenschaft gemacht, hunderttausende User teilten oder kritisierten das Lied, jede Songzeile wurde seziert.

So singt Tarkan etwa: „Hast du uns nicht immer in die Ecke gedrängt?“ „(Er) wird gehen, wie (er) gekommen ist“ „Alles hat ein Ende, auch diese trübe Zeit wird vorbeigehen“ „Du hast es wirklich übertrieben, wir haben es satt“ und „Fall' endlich, rück' endlich ab“. Tarkan selbst sagt, er habe bei dem Lied die Pandemie und die international herausfordernde Lage vor Augen gehabt. Er bleibt stets vage, was freilich Raum für Interpretationen zulässt; an einer anderen Stelle singt er zwar zweideutig, aber wortwörtlich von einem „Putsch“.

Es scheint, die Opposition hat ihre Hymne für die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr gefunden. Mit der traditionell progressiven Kunst- und Kulturszene hadert die AKP bereits seit Längerem; erst kürzlich lieferte sich die Regierungspartei einen verbalen Schlagabtausch mit der bekanntesten Pop-Sängerin der Türkei, Sezen Aksu. Tarkan hingegen scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben (obwohl er musikalisch sicherlich schon bessere Lieder produziert hat). Hat sich der Popstar nun mit der AKP angelegt? Möglich. Tarkan wird sehr wohl damit gerechnet haben, dass seine Liedzeilen politisch umgemünzt werden. In der konservativen Ecke war er ohnehin nicht zu verorten. In jedem Fall solle der Popstar auf der Hut sein, warnen ihn einige User halb im Scherz auf sozialen Medien: Nicht, dass plötzlich die türkische Justiz vor der Tür steht.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.