"Moralischer Tiefpunkt"

Ukraine-Krieg sorgt für Zerreißprobe bei russisch-orthodoxer Kirche

FILE PHOTO: Patriarch Kirill, the head of the Russian Orthodox Church, conducts a service on Orthodox Christmas at the Christ the Saviour Cathedral in Moscow
FILE PHOTO: Patriarch Kirill, the head of the Russian Orthodox Church, conducts a service on Orthodox Christmas at the Christ the Saviour Cathedral in MoscowREUTERS / MAXIM SHEMETOV
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Der Ukraine-Krieg spaltet die russisch-orthodoxe Kirche. Der Moskauer Patriarch Kyrill weigert sich, den Krieg zu entschieden zu verurteilen. Für den deutschen Ostkirchen-Experten Bremer ist das ein "moralischer Tiefpunkt in der Geschichte der Christenheit“.

Die Fribourger Theologin und Hochschullehrerin Barbara Hallensleben sieht die russisch-orthodoxe Kirche angesichts des Kriegs in der Ukraine vor einer "Zerreißprobe". Es sei "unerträglich", dass der Moskauer Patriarch Kyrill I. den "abscheulichen" Krieg nicht mit ganzer Entschiedenheit verurteile, betonte die Ostkirchen-Expertin in einem Gastbeitrag im Schweizer "Sonntagsblick" laut Kathpress.

Nicht nur die westliche Welt sei entsetzt, auch die orthodoxen Gläubigen der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine und überall in der Welt beginnen sich klar zu distanzieren, so Hallensleben. Beim Krieg in der Ukraine handle es sich zwar um einen "Krieg Putins" (Russlands Präsident Wladimir Putin, Anm.) den die russisch-orthodoxe Kirche nicht initiiert habe. Die Kirche sei "jedoch auf unheilvolle Weise in ihn verstrickt".

So habe der russische Staat nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes auf den Rückhalt der Kirche gesetzt und diese seinerseits gestützt. Die Zeiten hätten sich jedoch gewandelt, machte Hallensleben geltend; der Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche auf das öffentliche Leben sei inzwischen verschwindend gering. "Nun wird sie von einem totalitären Machthaber für eigene Zwecke funktionalisiert. Wenn sie in dieser Inszenierung mitspielt und sich nicht rasch und eindeutig distanziert, wird sie mit dem Regime in den Abgrund gerissen werden."

Aufruf zu differenzierter Wahrnehmung

Als Oberhaupt einer Kirche, deren Gemeinden auf beiden Seiten der Front leben "und deren Gläubige nun als Soldaten genötigt sind, aufeinander zu schießen", wie die Theologin erinnerte, seien die Augen der Welt auf Patriarch Kyrill I. gerichtet. Die russische orthodoxe Kirche sei "kurz davor, genau das zu verlieren, worum es dem Patriarchen geht: kirchliche Gemeinschaft mit dem Ursprung der Christianisierung Russlands im Jahr 988 durch die Taufe von Fürst Wladimir von Kiew."

"Russland ist nicht Putin, und die russische orthodoxe Kirche ist nicht Kyrill", rief Hallensleben gleichzeitig zu einer differenzierten Wahrnehmung auf. "In Kirche und Gesellschaft leben in Russland Menschen, die trotz der totalitären Kontrollmechanismen im Widerstand gegen Putin sind und die unsere Solidarität brauchen, um ein Russland nach dem Krieg, eine russische orthodoxe Kirche nach dem Krieg aufzubauen", zeigte sie sich überzeugt.

Gemeinden wenden sich ab

Dass sich russisch-orthodoxe Gemeinden von ihrem Oberhaupt in Moskau abwenden, ist laut dem deutschen Ostkirchenexperten Thomas Bremer derweil nicht nur in Europa, sondern auch in USA oder Kanada zu beobachten: "überall, wo es russisch-orthodoxe Gemeinden gibt". Aus seinen Kontakten mit Priestern und Bischöfen wisse er, "dass sie Kyrill nicht mehr als ihren Patriarchen betrachten, weil sie sagen: Er lässt uns im Stich", sagte der Professor für Ostkirchenkunde und Friedensforschung am Ökumenischen Institut der Universität Münster am Sonntag im WDR-Interview.

Selbst die von Metropolit Onufrij geführte ukrainische russisch-orthodoxe Kirche (UOK-MP) habe bereits zu Kriegsbeginn ihr Oberhaupt in Moskau gebeten, sich beim Kreml-Chef für Frieden einzusetzen, so Bemer. "Viele Bischöfe und Priester haben inzwischen aufgehört, in der Liturgie für Kyrill zu beten. Das heißt, die Kirche hat sich sehr klar und sehr eindeutig auf die ukrainische Seite gestellt."

Große Konsequenzen

Der Moskauer Patriarch selbst hat eine ganz andere Lesart, wie er am Sonntag erneut deutlich machte. Wieder bediente er das Narrativ von der Unterdrückung von Gläubigen seiner Kirche durch die ukrainische Regierung. Er bedauere auch, dass heute sogar einige "aus Furcht" in Gottesdiensten nicht mehr des Moskauer Patriarchen gedenken wollten, sagte er nach Angaben seiner Kirche in seiner Predigt in Moskau.

Hier werden diametrale Sichtweisen deutlich, die laut Bremer große Konsequenzen für die Zeit nach dem Krieg haben werden, "egal, wie der ausgeht". Fatal dürfte auch sein, dass viele Russen, die sich nur mittels russischer Medien informieren, kaum etwas von den Differenzen erfahren. Das Moskauer Patriarchat, das sonst auf seiner Website viele Nachrichten des ukrainischen Zweigs bringt, ignoriere sowohl Friedensappelle von Metropolit Onufrij an Putin und Kyrill als auch die Tatsache, dass Onufrij Russland als Aggressor verurteile. "Das wird alles totgeschwiegen", so Bremer.

Die moskautreue Kirche hat in der Ukraine die meisten Pfarren. Allerdings bekannten sich in Umfragen deutlich mehr Bürger des Landes zur 2018 gegründeten eigenständigen (autokephalen) orthodoxen Kirche der Ukraine, die sich von Moskau abgespalten hatte.

„Moralischer Tiefpunkt"

Auch wenn es vermutlich zu früh für Prognosen sei: Nach dem Krieg, so vermutet der Professor, werden wohl einige der ukrainischen Bischöfe eine Art "Reueerklärung" gegenüber Moskau abgeben, während die übrigen Bischöfe von der russisch-orthodoxen Kirche abgesetzt würden. "Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Autonomie, die der ukrainische Zweig der russisch-orthodoxen Kirche jetzt hat, dann aufgehoben wird und dass man sich sozusagen wieder ganz 'einordnet'", prognostiziert Bremer.

Für den Theologen Thomas Kremer von der deutschen Universität Eichstätt steht indes fest: Die russisch-orthodoxe Kirche hat nur noch ohne Patriarch Kyrill I. eine Zukunft. Dessen Haltung zum Ukraine-Krieg markiere "einen moralischen Tiefpunkt in der Geschichte der Christenheit", schreibt Kremer auf dem Portal "katholisch.de". Es sei für die russisch-orthodoxen Gemeinden an der Zeit, "sich entschieden und unerschrocken zu bekennen", so der Professor für die Theologie des Christlichen Ostens. Das täten sie "vielleicht noch nicht lautstark genug".

(APA)

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