Viertklässler Stan (Milo Coy) soll in „Apollo 10 1/2“ auf den Mond fliegen – noch vor Neil Armstrong.
Film

„Apollo 10 1/2“: Mondlandung und Alltag

Richard Linklaters erster Netflix-Film malt das flirrende Sittenbild einer Jugend in Houston zur Zeit des „Space Race“ – und tappt dabei nie in die Nostalgiefalle.

Stan, die Hauptfigur von Richard Linklaters „Apollo 10 ½“, hat zwei sehr unterschiedliche Großmütter. Jene, die ihre Enkelkinder regelmäßig ins Kino schleppt, um dort in Hollywoods glücksduseliger Österreich-Fantasie „Sound of Music“ zu schwelgen, nennt er, „passend zu ihrem Filmgeschmack“, eine „nette Dame ohne Fehl und Tadel“. Die zweite Oma ist quasi deren Gegenpol: Eine knorrige Frau voller Verschwörungsthesen und Untergangsvisionen, „hantig und paranoid“, aber auch „unterhaltsam“ in ihrem mieselsüchtigen Sendungsbewusstsein.

Die Gegensätzlichkeiten dieser Großmütter stecken auch in Linklater selbst. Der 61-jährige Texaner ist einer der wenigen US-Filmemacher, für die der Begriff „Independent“ mehr ist als ein hübsch glänzendes Marketingetikett. Seit seinem quirligen Boheme-Kaleidoskop „Slacker“ (1990) steht er für ein Kino, das subversive Umtriebigkeit und Mut zum Experiment unverkrampft mit populärem Anspruch verbindet.

Linklater ist ein Regisseur, der keinen Widerspruch darin sieht, nach einem flirrenden Animationstrip durch ein dokumentarisches Dickicht voller gegenkultureller und alltagsphilosophischer Betrachtungen („Waking Life“, 2001) eine Komödie zu drehen, in der Jack Black einer Gruppe von Schulkindern beibringt, wie man richtig rockt („School of Rock“, 2003) – und der beide Filme mit der gleichen Leidenschaft und gewitzten Ernsthaftigkeit in Szene setzt.

1969 in Houston, Texas

In seinen erfolgreichsten Produktionen widmet er sich – zum Teil aus persönlicher Erfahrung schöpfend – den Lebenswelten junger Menschen: im ausgefransten Coming-of-Age-Klassiker „Dazed and Confused“ (1993) und im oscarnominierten Langzeitprojekt „Boyhood“, das von 2002 bis 2013 mit seinen Darstellern mitgealtert ist. Vielleicht ein Grund, warum er bei seinem ersten Film für Netflix ähnliches Territorium beackert: „Apollo 10 ½“ spielt um 1969 in Linklaters Geburtsstadt Houston, vor dem Hintergrund des popmythologisch umrankten „Space Race“.

Hier wird der Viertklassler Stanley (Milo Coy), ein loses Alter Ego Linklaters, vom Schulhof weg von zwei Regierungsagenten rekrutiert, um im Dienst der Vereinigten Staaten testweise auf den Mond zu fliegen. Aufgrund eines Konstruktionsfehlers passen Erwachsene nicht in das vorgesehene Raumgefährt, und Stan hat Talent und die richtige Körpergröße. Für seine streng geheime Mission begibt sich der findige Sohn eines frugalen Nasa-Bürokraten in ein rigoroses Trainingsprogramm.

Was klingt wie der Plot eines schrulligen Samstagmorgencartoons, wird vom Film weder aufgebauscht noch hinterfragt. Handelt es sich um das Hirngespinst eines fantasievollen Buben, dessen gealtertes Ich (Stimme: Jack Black) im Off-Kommentar freimütig seine Fabulierwut bekennt? Oder um eine ambivalente Ironisierung von Verschwörungsglauben im Geiste eines Thomas Pynchon? Egal: Die Astronautenstory dient Linklater ohnehin nur als Aufhänger für zig andere Geschichten, die letztlich viel interessanter sind, weil sie ein detailsattes Panorama des Alltags einer mittelständischen US-Großfamilie – drei Brüder, drei Schwestern! – aus den späten Sixties auffächern.

Die Unbeschwertheit, mit der „Apollo 10 ½“ dabei von einer Anekdote zur nächsten hüpft, täuscht zusammen mit seiner bunten Ästhetik – wie bei „Waking Life“ bedient sich der Film der Rotoskopie-Technik, bei der reale Aufnahmen zeichnerisch nachbearbeitet werden – eine nostalgische Aura vor, die Linklater im Detail bewusst unterläuft. Sein Rückblick bleibt zwiespältig: Das Leben „früher“ war nicht besser, sondern anders: zugleich freier und gefährlicher, schöner und schrecklicher – und überdies gar nicht so weit entfernt von der Gegenwart.

„Das Leben war wertloser“

Schon damals wusste man nicht, welche von etlichen Serien man sich (im jungen Medium des Fernsehens) ansehen sollte, schon damals fürchtete man sich vor Kriegskatastrophen und Umweltverschmutzung, träumte man von der Besiedelung ferner Planeten und freute sich auf den Besuch im nächstgelegenen Vergnügungspark. Freilich: „Das Leben war wertloser, wir waren entbehrlicher“, wie es an einer Stelle fast schon achselzuckend heißt. Da fuhr die Jugend mit dem Rad fröhlich dem Truck hinterher, der im Ort Insektizide versprühte: „Wir kamen gar nicht auf die Idee, dass das schädlich sein könnte.“ Das ist irgendwie lustig. Aber irgendwie auch ziemlich arg.

Nicht nur aufgrund dieser weisen Mehrdeutigkeit nimmt „Apollo 10 ½“ im Klima der heutigen US-Filmkultur, die manisch zwischen Retrofetischismus und pauschaler Negation einer vermeintlich rückständigen Vergangenheit pendelt, eine bemerkenswerte Ausnahmestellung ein. Schade nur, dass dieses beiläufige Meisterwerk nicht dort zu sehen ist, wo es hingehört: im Kino.

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