Der japanische Autor Keiichirō Hirano erzählt in seinem Roman „Das Leben eines Anderen“ von einem Rechtsanwalt, der einen Mann sucht, dessen Identität gestohlen wurde – während er sich selbst in einen anderen verwandeln will.
Die Geschichte des tragischen Narziss kennen wir alle: Unaufhörlich sitzt er über den Fluss gebeugt, betrachtet in scheinbar unendlicher Selbstverliebtheit sein eigenes Spiegelbild im Wasser und sehnt sich zugleich schmerzhaft danach, sich selbst „von seinem Leib zu trennen“, wie Ovid es in den „Metamorphosen“ beschrieben hat.
Wie lohnend es sein kann, in einer Zeit wie der unseren, die so sehr auf Individualität setzt, in der Identität zugleich aber als etwas sehr Fluides erscheint, den Mythos des Narziss literarisch neu zu denken, zeigt Keiichirō Hiranos Roman „Das Leben eines Anderen“, der, indem er direkt auf den Mythos des Narziss verweist, das Kernthema des Romans benennt: die ewig menschliche Sehnsucht nach Verwandlung – danach, buchstäblich ein anderer zu werden, die eigene Existenz einzutauschen gegen die eines anderen.
Kido ist Ende dreißig und Rechtsanwalt. In seiner Ehe nicht mehr besonders glücklich, zugleich möchte er seine junge Familie aber keinesfalls zerstören. Der Fall eines mysteriösen Identitätstauschs, den er mehr zufällig und pro bono übernimmt, kommt ihm gerade recht: Rie, eine ehemalige Klientin, wendet sich an ihn, nachdem sie nach dem Tod ihres Ehemannes hatte feststellen müssen, dass dieser sie über seine Identität vollständig angelogen hatte.